Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Der auswärtige Handel. 265 
  
land erreicht ist. War es der Industrie bisher möglich, die ihr im Interesse der Land- 
wirtschaft und damit der gesamten Volkswirtschaft auferlegten Opfer zu tragen, so ist 
dringend davor zu warnen, daß der Bogen überspannt wird — nicht zuletzt im Interesse 
der Landwirtschaft selbst, deren Schutzzölle sonst leicht in Zeichen wirtschaftlichen Nleder- 
ganges schweren Angriffen ausgesetzt sein könnten. 
Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, wenn im Vertrauen auf die 
sprichwörtliche Anpassungsmöglichkeit der deutschen Industrie und geblendet durch den 
Glanz der letzten Konjunkturjahre, die Auffassung sich festsetzte, daß die deutsche In- 
dustrie „nicht tot zu kriegen“ sei. Eine Handelspolitik, die solcher Auffassung Stütze 
gäbe, würde sich mit den treibenden Kräften des neudeutschen Wirtschaftslebens in 
ausgesprochenen Widerspruch setzen. Denn so sehr die Bedeutung der Landwirtschaft für 
das deutsche Wirtschaftsleben anzuerkennen ist und das an dieser Stelle darüber Gesagte 
Wort für Wort bestehen bleibt, so energisch muß immer wieder betont werden, daß der 
Schwerpunkt der deutschen Volkswirtschaft heute — man mag das bedauern oder be- 
grüßen — in der Industrie liegt. Sie gibt uns die Möglichkeit, innerhalb unserer Grenzen 
ein 80 Millionenvolk zu werden, sie in erster Linie setzt uns in den Stand, die finanziellen 
Mittel für unsere politische Machtstellung aufzubringen und ihr ist vor allem jene ma- 
terielle Aufwärtsentwicklung des deutschen Volks in den letzten Jahrzehnten zu danken, 
durch die zu gutem Teile auch die Bedingungen einer fortschreitenden geistigen Kultur 
geschaffen wurden, an der das ganze Volk in allen seinen Schichten teilnimmt. Daß freilich 
biese geistige Kultur heute schon einen Zustand darstellte, der zu kritiklosen Vubelhpmnen 
auf den „Industrialismus“ Anlaß böte, wird niemand behaupten wollen. Aber: hat je 
eine Zeit mit agrarischem Wirtschaftsleben auch nur annähernd so ausgeprägte kulturelle 
Massenwirkungen gesehen, wie das moderne Deutschland sie aufweist? 
  
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