VI. Buch. Binnenhandel. 275
Liegt in dieser natürlichen Widerstandsfähigkeit des Kleinbetriebes ein Trost
für den Sozialpolitiker, der das Aufschießen der Warenhäuser nicht ohne Besorgnis be-
gleitet, und verbürgt sie die Zukunft des Detaillistenstandes, so ist andererseits nicht außer
acht zu lassen, daß der erwähnte Vorzug die Ursache einer ungesunden Entwicklung sein
kann. Bei aller Sympathie für den Kleinbetrieb im gewerblichen Leben wird man doch
der Erkenntnis nicht ausweichen dürfen, daß Gebilde, die der Lebensfähigkeit entbehren,
im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse verschwinden sollen. Der Reinigungsprozeß
vollzieht sich in der Zndustrie unaufhaltsam; die Hand am Besen hat der Großbe-
trieb. Eine Überschwemmung industrieller Berufe mit ungesunden Euristenzen ist des-
halb vielleicht vorübergehend, aber nicht auf längere Dauer möglich. Anders im
Handel: durch die weit geöffneten Tore ziehen frische Rekruten ein, um sich in die
Armee der Kämpfer einzureihen; aber selbst wenn sie sich als ungeeignet erwiesen haben,
werden sie noch geraume Zeit das Ganze als unnützer Troß beschweren — dank eben
jener Zähigkeit, die hier zwar nicht die Bedingung eines gesunden Lebens, aber doch die
Möglichkeit des Vegetierens schafft.
Zu untersuchen, ob in der heutigen Besetzung des Handelsstandes bereits der Zu-
stand der Uberfüllung zu erkennen sei, ist müßig. Wichtiger ist es, nach Mitteln Umschau
zu halten, die für Gegenwart und Zukunft der Gefahr der Uberfüllung vorbeugen.
Aus dem Zuftrom der Elemente die ungeeigneten auszuscheiden und dem Stande dauernd
ferenzuhalten, wird um so eher gelingen, je mehr durch Selbsthilfe und Maßnahmen des
Staates das Niveau bes Handels gehoben wird. Oie Anforderungen, die in geistiger
Beziehung an die Angehörigen des Berufs gestellt werden, müssen hoch gehalten werden;
das Erfordernis sorgfältiger Schulung wirkt verscheuchend auf Elemente, die der Vor-
bildung entbehren. Die Hebung des N#veaus hat zwar in gewissem Umfange zur Folge,
daß der Wettbewerb innerhalb des Gewerbes sich verschärft und damit dem einzelnen
Unbequemlichkeiten erwachsen, aber im Interesse der Sichtung des Standes ist dies nur
erwünscht. Zu den wichtigsten Maßregeln, durch die Abwehr und Ausmerzung unge-
eigneter Elemente mittelbar bewirkt werden, gehören diejenigen, welche den Unlauter-
keiten in Handel und Wandel entgegenwirken. Das Gesetz gegen den unlauteren Wett-
bewerb, das am 27. Mai 1896 ergangen war, wies einige wesentliche Lücken auf, die das
neue Gesetz, das vom 7. Juni 1909 datiert, auszufüllen versucht hat. Die Verschärfungen,
die es brachte, konnten im Interesse des soliden Handels nur willkommen geheißen werden.
Allerdings muß man sich vor dem Wahn hüten, als ob gesetzliche Zwangemittel genügten,
um die Auswüchse im Handelsverkehr zu vernichten. Mehr als vom Gesetz ist von der
Sitte zu erwarten; das Zusammenwirken der Angehörigen der einzelnen Zweige
des Handelsgewerbes ist von schöpferischer Kraft. Ohne Organisation keine Erziehung,
dies gilt auch für das Handelsgewerbe, das mehr als andere Gewerbe zur Zersplitterung
neigt. Eine allzu starke Betonung der Staatshilfe bei Bekämpfung des unlauteren Wett-
bewerbes ist imstande, der Verbreitung der irrtümlichen Ansicht Vorschub zu leisten, als
sei alles, was der Staat nicht verbietet, erlaubt.
Oie Gefahr einer Uberfüllung des Kaufmannsstandes wird noch durch einen be-
sonderen Umstand in die Nähe gerückt: durch die Absperrung der Frauen von den an-
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