316 Versicherungswesen. VI. Buch.
Wohl niemand hätte vor 25 Zahren eine so
ungeheure Entwicklung der deutschen Privat-
versicherung für das nächste Vierteljahrhundert vorauszusagen gewagt, wie sie sich aus
diesen Ziffern ergibt. Um so weniger wäre diese Entwicklung wohl prophezeit worden,
als man bei Beginn der Sozialversicherung Anfang der 80er JZahre häufig die
Furcht empfand, es werde die gesamte Privatversicherung in öffentlichen Betrieb
Überführt werden, und die soziale Zwangsversicherung der Arbeiter wäre nichts anderes
als der Beginn einer vollständigen Verstaatlichung der Assekuranz. Was aber hat sich
inzwischen ergeben? Selbst der Zweig, der, wie es schien, zunächst den Privatunter-
nehmern vollständig entzogen würde, die Unfallversicherung, hat einen gewaltigen
Aufschwung genommen. Während 1887 eine Anstalt mit nur 1,4 Millionen Aktiven ge-
zählt werden konnte, weist die Statistik für 1911 27 Gesellschaften dieses Zweiges auf,
die Aktiven in Höhe von fast 199 Millionen Mark besitzen. Und nun gar einen Blick auf
die Lebensversicherung. Zwar ist die Zahl der Gesellschaften nach den Statistiken für
1887 und 1911 fast die gleiche, aber die Aktiven sind von 914 Millionen emporgeschnellt
auf 5364 Millionen, haben sich also mehr als verfünffacht. Und so läßt sich für fast jeden
Versicherungszweig, der schon 1887 betrieben wurde, eine mehr oder minder gewaltige Zu-
nahme feststellen. Blickt man auf die Gesamtsumme der Aktiven aller Anstalten und aller
Zweige, so ergibt sich, daß diese von 1,5 auf 7,2 Milliarden Mark angewachsen sind,
also fast um das Sechsfache sich vermehrt haben. In keiner anderen Epoche der gesamten
Versicherung lassen sich ähnliche Aufwärtsbewegungen feststellen. Dabei ist wohl zu be-
achten, daß diese ungeheure Vermehrung von Versicherungsverträgen in jener Epoche
nicht etwa auf Kosten der Solidität der Versicherer vor sich ging oder durch irgendwelche
nicht einwandfreie Mittel erzielt wurde. Im wesentlichen waren und sind es auch seit
längerer Zeit bestehende bewährte Gesellschaften, welche den Umsatz derartig vergrößern,
nur in unbedeutendem Umfang Neugründungen. Keineswegs sind etwa allgemein in
den Zeiten dieses Aufschwungs die Preise für die Bersicherung billiger geworden, wohl
aber haben sich die Vertragsbedingungen durchweg zugunsten der Versicherten ver-
ändert.
Die zunehmende Umwandlung Deutschlands von einem Agrar- in einen Industrie-
staat drückt sich naturgemäß auch in den Ziffern der Versicherung aus. Aber es zeigt sich
nicht etwa, daß die landwirtschaftlichen Versicherungszweige zurückgegangen wären,
im Gegenteil, auch sie haben einen durchaus befriedigenden Aufschwung genommen,
wenngleich nicht zu leugnen ist, daß die Beteiligung an der Versicherung in den ländlichen
Kreisen weit schwerer durchzusetzen ist als in den städtischen.
Eine ungeahnte Entwicklung.
Fast alle neuen Versicherungszweige, die seit
1888 aufgekommen sind, suchen zur Lösung von
Problemen beizutragen, die sich in der Industrie geltend machen oder vornehmlich in
den Städten. Aber Zweige, wie die Einbruchdiebstahl-Versicherung, die Wasser-
leitungsschäden-Versicherung kommen auch den ländlichen Bezirken zugute.
Oie rapide Zunahme der deutschen Exportindustrie hat nicht so, wie man vermuten
Neue Versicherungszweige.
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