320 Versicherungswesen. VI. Buch.
Bevölkerung heranzuziehen wünschen. Das beweisen sie auch durch die Aufnahme
der Volksversicherung in allerjüngster Zeit.
Unstreitbar trägt diese öffentlich-rechtliche Versicherung einen gewissen politischen
Charakterzug, und es ist kaum zu leugnen, daß durch sie die deutsche Versicherung in ein
ganz neues Stadium der Entwicklung getreten ist, von dem nicht vorausgesagt werden
kann, ob es zum Segen oder zum Unheil der Versicherung führt. Die Politisierung der
deutschen Privatversicherung hat begonnen, und wie kaum anders zu erwarten, hat gegen-
über der einen im wesentlichen konservativen Charakterzug aufweisenden öffentlich-
rechtlichen Lebensversicherung eine Bewegung eingesetzt, die nach dem andern politi-
schen Extrem, nach der sozialdemokratischen Seite hinneigt. Eine gewerkschaftlich-genosf-
senschaftliche Aktiengesellschaft sucht die Arbeitermassen ihrerseits für die Bolksversiche-
rung zu gewinnen. Demgegenüber haben sich die meisten Lebensversicherungsanstalten
zu einem Verbande vereinigt und suchen ihrerseits durch eine eigene Gründung eben-
falls der Volksversicherung weitere Ausdehnung zu geben in der Absicht, die beiden
politischen Extreme der andern Gruppen zu vermeiden, wodurch sie naturgemäß gewisser-
maßen zur Versicherung für die Mittelparteien werden. Man mag über solch plötzlich
auftretende starke Konkurrenzen denken wie man will, das eine gute haben sie, wenn
nicht stets, so wenigstens in diesem besonderen Fall: sie bringen eine sehr erhebliche
weitere Besserung der Bedingungen für die Versicherten. Forderungen, die von der
Theorie schon lange erhoben, von der Prazis aber wiederholt als undurchführbar bezeich-
net worden waren, sind mit einem Male als möglich, als nützlich, als notwendig aner-
kannt worden.
Besserstellung der Versicherten. Die fortgesetzte Besserstellung der Ber—
sicherten ist ũberhaupt ein Charakeristikum
für die hier in Betracht kommende Periode. Sie haben allenthalben günstigere Be-
dingungen erhalten, umfassenderen Schutz. Dort, wo die Prämien höher geworden sind,
bedeutet diese Steigerung wohl durchweg eine zunehmende Gerechtigkeit in der Prämien-
berechnung, weil das Risiko gestiegen ist oder die frühere Berechnung zu ungünstig war.
Aufder anderen Seite hat sich aber auch die Stellung der Versicherer im letzten Viertel-
jahrhundert verbessert. Vor allem hat sich der Umsatz der Anstalten durchweg gewaltig
gesteigert, und damit haben naturgemäß die Gewinne zugenommen. Ihre Einfluß-
sphäre ist jedenfalls nicht zurückgegangen; denn die erstarkte Verbandsbildung wie die
erhöhte Kapitalkraft der Versicherer machen sich in der verschiedensten Weise geltend.
Auch zur Durchführung des Schutzes der Versicherten haben sich Verbände gebildet,
die gelegentlich in scharfem Gegensatz zu den Verbänden der VBersicherer getreten sind,
oft aber auch in gütlicher Weise in Zusammenarbeit mit diesen das Gesamtwohl der Ver-
sicherung ins Luge gefaßt und gefördert haben.
In erfreulicher Weise hat sich bei vielen, im
Dienste der Privatversicherungen stehen-
den Angestellten im letzten Vierteljahrhundert ein Standesbewußtsein entwickelt.
Die Versicherungsbeamten.
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