Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
350 Handwerk. VI. Buch- 
Staat allerdings durch eine einsichtsvolle und weitblickende Gesetzgebung den Weg 
ebnen kann. In dieser Hinsicht bemerkt Wernicke mit Recht, daß alle Mittel, die dazu 
dienen, die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der Kleingewerbetreibenden durch 
Erhöhung ihrer technischen und kaufmännischen Bildung, durch genossenschaftlichen 
Zusammenschluß usw. zu erhöhen, ins Gebiet der Selbsthilfe oder deren Grundlagen 
gehören und durchaus zu billigen und zu unterstützen sind, während die Forderung der 
Unterdrückung oder hohen Besteuerung von Konkurrenten, wie der Warenhäuser, Kon- 
sumvereine u. dgl., Mittel der Fremdhilfe sind, die einen Almosencharakter an sich tragen 
und nicht im wirklichen und dauernden Interesse des Standes liegen können. Zwar 
leidet der Stand der Kleingewerbetreibenden unter dem Wettbewerb dieser neuzeitlichen 
Unternehmungsformen, aber die Gesamtheit hat Vorteile davon; der Staat darf nur 
dann zugunsten eines einzelnen Standes einschreiten, wenn mit der für alle bestehenden 
Freiheit Mißbrauch getrieben wird. 
Wünsche des Handwerks. Weitgehende Wünsche zeigt zunächst das Pro- 
gramm, das die im Jahre 1904 gegründete „Deutsche 
Nittelstandsvereinigung“ für die Reform des Handwerks aufgestellt hat. Innere 
und äußere Reformen werden verlangt: Einführung der allgemeinen Zwangsinnung, 
des großen Befähigungsnachweises (nicht offiziell ), einheitliche Abfassung von Lehr- 
verträgen und Gesellenbriefen, Verpflichtung der Gesellen zur Führung eines Arbeits- 
buches, Einbeziehung der selbständigen Handwerker in die Unfall- und Invalidenver-- 
sicherung, Ernennung eines besonderen Handwerksministers, Einschränkung der Gefängnis- 
arbeit, Heranziehung des Handwerks für die Beschaffung von Bedarfsgegenständen, die 
der Staat für Heer, Marine, Post und Eisenbahn benötigt, Sicherstellung der Forderungen 
der Bauhandwerker, gesetzliche Regelung des Submissionswesens, einschränkende Maß- 
nahmen gegen Warenhäuser und Konsumvereine, Abzahlungsgeschäfte, Wandergewerbe, 
Auktionen und Ausverkäufe. 
Schon im Februar 1902 hatten die Abgeordneten Trimborn und Genossen dem 
preußischen Abgeordnetenhause das Programm einer umfassenden Gewerbeförde- 
rung, namentlich für das Handwerk, vorgelegt, in dem u. a. verlangt wurde: Veranstaltung 
dauernder und zeitweiliger Ausstellungen von kleingewerblichen Motoren, Maschinen und 
Werkzeugen, Vorführung bewährter Arbeitsmethoden und technischer Fortschritte des 
Kleingewerbes in Lehrkursen, Förderung der Lehrlingsausbildung und des gewerblichen 
Genossenschaftswesens und Errichtung einer Zentralstelle beim Ministerium für Handel 
und Gewerbe; auch sollte dem Landtage eine Denkschrift über den Stand der Gewerbe- 
förderung nach den vorbezeichneten Richtungen vorgelegt werden. Die geforderte Denk- 
schrift erschien schon 1903; die preußische Zentralstelle für die Zwecke der Gewerbe- 
förderung trat ins Leben durch das 1905 gegründete Landesgewerbeamt im Ministerium 
für Handel und Gewerbe. — 1907 begründete Abgeordneter Trimborn im Reichs- 
tage den fast einstimmig angenommenen Mittelstandsantrag der Zentrumefraktion, der 
zugunsten des Handwerks Gesetzentwürfe verlangte, durch welche u. a. Bestimmungen 
zur Umgrenzung von Fabrik und Handwerk getroffen, Fabrikbetriebe mit handwerks- 
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