Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
360 Handwerk. VI. Buch. 
  
mittel herbeiführen und die Geschäftsmittel der Genossenschaften vergrößern; so vertritt 
sie für den Handwerker dieselbe Stelle wie die Reichsbank für den Kaufmann. Auch 
andere Bundesstaaten unterstützen den genossenschaftlichen Kredit durch Staatshilfe. 
ANeuerdings will man auch eine neue, in ÖOsterreich schon längere Zeit gebräuchliche 
Kreditform anwenden, die Diskontierung von Buchforderungen des Handwerkers; 
er zediert diese ausständigen Forderungen der Genossenschaft und erhält dann von ihr 
darauf Vorschüsse. — Durch die Rohstoffgenossenschaften sichern sich die Handwerker 
die Vorteile des Großeinkaufs: Verbilligung des Produkts und Lieferung besserer 
Qualitäten. Der Genosse braucht keine teuren und großen Lagerbestände zu führen, 
auch treten die Mitglieder desselben Geschäftszweiges sich menschlich näher. Eine Elaser- 
Einkaufsgenossenschaft in Berlin hat einen jährlichen Warenumsatz von mehreren Mil- 
lionen Mark. — Die Absatzgenossenschaft (Magazinverein) soll dem Handwerker 
die Möglichkeit bieten, die hergestellte Ware dem Publikum in der Form zu zeigen und 
zum Kauf anzubieten, wie es der Großbetrieb tut. Es handelt sich gewöhnlich um Be- 
schaffung eines gemeinsamen, großen, gut ausgestatteten Ladens in passender Geschäfts- 
lage. Sie hat sich besonders für das Schreiner- und Schuhmachergewerbe entwickelt. — 
Bei der Produktiogenossenschaft handelt es sich nicht bloß um gemeinsame Ver- 
kaufsräume, sondern um den Verkauf der von den Genossen hergestellten Erzeugnisse 
auf gemeinschaftliche Rechmung und Gefahr. Bei ihrer entwickelten Form muß der ein- 
zelne Handwerker seine geliebte Selbständigkeit aufgeben und wird zum Arbeiter der 
Genossenschaft; sie hat sich deshalb trotz mancher Vorteile, die naturgemäß in dieser A#r## 
des Zusammenschlusses liegen, nur wenig entwickelt. — Die Werkgenossenschaften 
stellen ihren Mitgliedern die Maschinenkraft, auf der besonders das Ubergewicht der 
Fabrik beruht, zur Verfügung, indem sie auf gemeinschaftliche Rechnung Werkzeuge, 
Kleinkraftmaschinen, Arbeits- oder Werkzeugmaschinen beschaffen und sie ihnen zur 
Benutzung überlassen. Sie haben besondere Bedeutung gewonnen im Schreiner- und 
Schuhmachergewerbe. 
Am 1. Januar 1912 bestanden im Deutschen Reiche 31 981 Genossenschaften (ein- 
schließlich der landwirtschaftlichen); die Statistik umfaßt davon 31 684 Genossenschaften 
mit 4778 666 Mitgliedern. Der Umsatz sämtlicher berichtenden Genossenschaften be- 
zifferte sich 1911 in der Gewährung von Kredit, Lebensmitteln, Wohnungen, Roh- 
materialien usw. auf rund 26 Milliarden Mark, sie arbeiteten mit mehr als 4 Milliarden 
Mark fremder Gelder. Es bestanden 18 126 Kreditgenossenschaften (unter ihnen allerdings 
mehr als 14000 landwirtschaftliche), 934 gewerbliche Kohstoff- und Magazingenossen- 
schaften (einschließlich Wareneinkaufsvereine der Händler), 454 gewerbliche Produktivge- 
nossenschaften und 944 Werkgenossenschaften. Abgesehen von den Kreditgenossenschaften 
hat sich demnach das gewerbliche Genossenschaftswesen verhältnismäßig nur langsam ent- 
wickelt, wenngleich gerade in den letzten Jahren erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen sind. 
So zählte man 1907 erst 380 gewerbliche Rohstoff- und Magazingenossenschaften, 275 ge- 
werbliche Produktivgenossenschaften und 390 Werkgenossenschaften. Vor einigen Jahren 
schätzte man noch die Zahl der selbständigen Handwerker, die sich am gewerblichen Ge- 
nossenschaftswesen beteiligten, auf wenig mehr als 10%. Bei fortschreitender theore- 
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