364 Die Arbeiter-Sozialpolitit. VI. Buch.
Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß
staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese
Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber
auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sitt-
lichen Fundamenten deschristlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß
an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letz-
teren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutze
und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von
Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Um-
fang nicht gewachsen sein würde.“
Hurchführung. Die Novemberbotschaft war gleichsam das soziale Testament Kaiser
Wilhelms lJ. Die Großtaten glorreicher Kriege und Siege nach außen,
die machtvolle innere Einigung des Deutschen Reiches sollten durch dieses soziale Friedens-
werk ihre Krönung finden. Und die hohe, ernste Auffassung des Kaisers fand die starke
Hand zur Durchführung in dem Kanzler, der seine ganze Kraft für das bedeutungsvolle
Werk einsetzte. Große Widerstände waren zu überwinden. Es mußte der Kampf auf-
genommen werden gegen die herrschende liberale Staatsauffassung, gegen das Mißtrauen
und die Zurückhaltung der Parteien. Dazu kamen die Schwierigkeiten in der praktischen
Gestaltung, da alle Erfahrungen und Vorbilder fehlten. Aur ein Bismarck mit seiner
überragenden Persönlichkeit, gestützt von dem Vertrauen des Kaisers, konnte diese Wider-
stände überwinden. Treueste Stütze fand er in dem durch seine liebenswürdigen Formen,
seine hohe rhetorische Begabung und nie versagende Arbeitskraft ausgezeichneten Staats-
sekretär von Bötticher und seinen ebenso tüchtigen wie arbeitsfreudigen Mitarbeitern
Lohmann, Bosse, Boediker, denen später von Woedtke, Caspar u. a. würdig folgten.
Während die erste Unfallvorlage (15. 2.81) als Träger der Versicherung eine Reichsanstalt vorgesehen
hatte, sollten nach der neuen Vorlage „korporative Genossenschaften unter staatlichem Schutze und staatlicher
Förderung" mit diesen Aufgaben betraut werden. Oiese („Betriebs“-) Genossenschaften sollten nach Gefahren-
llassen gebildet werden, so daß Betriebe verschiedenster Art, die sich innerlich ganz fernstanden, in einer Ge-
nossenschaft vereinigt wurden. Dem widerstrebten die maßgebenden Parteien des Reichstages. Außerdem
ergab sich bei der parlamentarischen Beratung die Notwendigkeit, die Unfallversicherungsträger von der Masse
der kleineren Unfälle möglichst zu entlasten, da sie bei ihrer weiten territorialen Ausdehnung diesen unmög-
lich die Sorgfalt und Aufsicht zuwenden konnten, wie sie geboten war. Deshalb wendete sich die Kommission
des Reichstages zunächst der Beratung der Krankenversicherung zu, der dann die Versorgung der Unfälle
für die ersten 13 Wochen überwiesen wurde. Unterm 15. Juni 1883 kam diese zur Verabschiedung. Inzwischen
hatte die Regierung einen dritten Unfallversicherungsgesetzentwurf ausgearbeitet (eingebracht im Januar
1884), der auf dem Prinzip der „Berufs"“-Genossenschaften aufgebaut war. Oieser wurde nach eingehenden
Beratungen am 6. Juli 1884 glücklich unter Dach gebracht. Das Gesetz beschränkte sich zunächst auf die ge-
werblichen Betriebe, soweit diese Motoren verwendeten oder mindestens zehn Arbeiter beschäftigten.
Durch eine Reihe von Novellen wurde dann die Unfalloersicherung weiter ausgedehnt auf das Verkehre-
gewerbe (28. 5. 85), auf Personen des Soldatenstandes (15. 3. 86), auf land- und forstwirtschaftliche Arbeiter
(5. 5. 86), auf Regie-Bauarbeiter (11. 7.87), auf Seeleute (15. 7. 87).
So kam die Kranken- und Unfallversicherung noch unter dem ersten deutschen Kaiser
zu glücklichem Abschluß und zu praktischer Durchführung. Bezüglich des schwierigeren
Teiles, der Alters- und Invalidenversicherung, wurden am 19. November 1887
812