Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
370 Die Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch. 
  
Geschenk an die arbeitenden Klassen sein. Die Kosten sollten durch Einführung des 
Tabakmonopols — als „Patrimonium der Enterbten“ — gedeckt werden. In der Thron- 
rede von 1881 war das deutlich zum Ausdruck gekommen, allein im Reichstage wurde 
die Monopolvorlage mit erdrückender Mehrheit (276 gegen 43 Stimmen) abgelehnt. 
Trotzdem hielt Bismarck an seinem Gedanken fest, die Arbeiter möglichst von allen Bei- 
trägen freizulassen. 
Aur der entschiedene Wiederspruch des Reichstages bewirkte es, daß der Reichsbeitrag bei der Unfall- 
versicherung aufgegeben und auch bei der Invalidenversicherung neben den gleichen Beiträgen der Arbeitgeber 
und Arbeiter nur ein einheitlicher Reichszuschuß von 50 M. zu jeder Alters- und Znvalidenrente vorgesehen wurde. 
Bismarck ging überhaupt in seiner ganzen Sozialpolitik von einer mehr patriar- 
chalischen Auffassung aus. Er verkannte durchaus Charakter und Ziele der modernen 
Arbeiterbewegung. Oie Arbeiter verlangten „Rechte" und nicht „Almosen“. Vor allem be- 
anspruchten sie Schutz gegen die wirtschaftliche Ubermacht und die rücksichtslose Ausnutzung 
seitens der Arbeitgeber. Sie forderten Schutz der Kinder gegen die vorzeitige, Gesund- 
beit, Erziehung und Sittlichkeit gefährdende Beschäftigung in Hausindustrie und Fabriken. 
Sie beklagten sich über die zunehmende Sonntagsarbeit in Fabriken, Werkstätten 
und Verkaufsstellen. Sie wiesen hin auf die schweren Schädigungen für Gesundheit, 
Sittlichkeit und Familienleben, welche mit der schrankenlosen Ausnutzung der Arbeite- 
rinnen verknüpft waren und welche nicht bloß die Volkskraft der gegenwärtigen Genera- 
tion, sondern auch die Zukunft unseres Volkes gefährden mußten. Sie berichteten 
über bittere Erfahrungen und Rücksichtslosigkeiten bei Gestaltung und Handhabung 
der Fabrikordnungen, der Strafen und Abzüge, der Kündigungsfristen und Zeug- 
nisse usw. Es waren die Klagen und Anklagen nicht bloß sozialdemokratisch verhetzter 
Elemente, sondern auch derjenigen Arbeiterkreise, die treu zu Kaiser und Reich hielten 
und ehrlich auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung eine Besserung der 
Verhältnisse erstrebten und erhofften. Eingehende, auf Veranlassung des Reichstages 
(50. 4. 73) ins Werk gesetzte Erhebungen (1874 und 1875), deren Ergebnisse im Reichs- 
amt des Innern zusammengestellt und veröffentlicht waren (Berlin, Hepmann 1877), 
die alljährlichen Berichte der Fabrikinspektoren hatten die Berechtigung dieser Klagen 
durchaus bestätigt. Eine Fülle von Anträgen und Interpellationen im Reichstage (1877, 
1878, 1882, 1884/85 und dann alljährlich) hattten immer wieder dringende Abbilfe ver- 
langt. Ein vollständiger Gesetzentwurf betreffend die Beschränkung der Frauen- und 
Kinderarbeit (1887) und ein solcher zum Schutz der Sonntagsruhe (1888) waren 
auf Grund der Anträge des Zentrums nach vielfachen gründlichen Kommissionsberatungen 
mit erdrückender Mehrheit vom Reichstag angenommen und dann immer wieder als 
solche der Regierung mit steigenden Mehrheiten zur Annahme empfohlen worden. Von 
allen Seiten war anerkannt, daß auf diesem Gebiet des Arbeiterschutzes Deutschland 
gegenüber den anderen Staaten: England, Osterreich, Schweiz im Rückstand geblieben 
sei. Fmmer wieder war geltend gemacht worden, daß die Verhütung von Krankheit, 
von Unfällen, von Invalidität — der Arbeiterschutz — noch wichtiger sei als die Ent- 
schädigung der wirtschaftlichen Folgen, daß auch die Arbeiter selbst auf die Erhaltung 
ihrer Gesundheit, die Sicherung eines geordneten Familienlebens und der persönlichen 
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