Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 371 
  
Würde und Freiheit in ihrem Arbeitsverhältnis mehr Wert legten als auf die Wohl- 
taten der Arbeiterversicherung. Aber all diese noch so berechtigten und wohlwollenden, 
stürmischen Wünsche und Vorstellungen fanden bei Bismarck kalte Ablehnung, bittere 
Kritik. 
Schon im Jahre 1877 war, wohl auf Grund der Erhebungen über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter 
(veröffentlicht 1877), im Preußischen Handelsministerium ein umfassender Arbeiterschutzgesetzentwurf aus- 
gearbeitet worden, der dann aber vom Fürsten Bismarck aufs schärfste bekämpft und so in den entscheidenden 
Forderungen fallen gelassen wurde. Bismarck machte in seinem Schreiben an den damaligen Handelseminister 
Ichenbach geltend: „ODie Kämpfe der Arbeiter und Arbeitgeber drehen sich wesentlich um die Höhe des An- 
teils eines jeden am Gewinn und um die Höhe der Leistungen, welche vom Arbeiter verlangt werden darf, 
um Lohn und Arbeitszeit. Daß irgendwie die Punkte, welche der vorliegende Entwurf berührt, und nament- 
lich die Sorge für die körperliche Sicherheit, für die Schonung der Jugend, für die Trennung der Geschlechter, 
für die Sonntagsheiligung — und wenn diese Fragen viel befriedigender gelöst würden, als im Entwurf 
beabsichtigt ist — daß die Steigerung der Macht der Staatsbeamten (gemeint sind die Fabrikinspektoren) 
den Frieden der Arbeiter und der Patrone herstellen würde, ist nicht anzunehmen. Im Gegenteil, sede weitere 
Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetriebe vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohn- 
zahlung.“ (Poschinger, Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck, Berlin 1890, Aktenstück 142.) 
Oieselben Gesichtspunkte kehrten in seinen leidenschaftlichen Reden 1882 (Interpellation von Hertling 
und Genossen), 1885 (Antrag des Zentrums und Beratung des Kommissionsantrages betreffend Sonntags- 
ruhe) wieder. „Kann die Industrie solche Lasten tragen?“ „Wo liegt die Grenzlinie, bis zu welcher man die 
Industrie belasten kann, ohne dem Arbeiter die Henne zu schlachten, die ihm die Eier legt7“ „Wird diese bei 
einem Siebentel Abzug (in der Produktionsleistung infolge der Sonntagsruhe) exportfähig bleiben?"“ — „Wer 
soll dem Arbeiter den Ausfall tragen“, wenn etwa der Arbeitstag um 20% gekürzt wird und damit auch die 
Leistung entsprechend zurückgeht ? — „Sst der Arbeitgeber, ist der Arbeiter bereit, den Ausfall des siebenten 
Arbeitstages auf sich zu nehmen?“ — Has sind die Fragen und Einwände, die immer wiederkehren. Der 
mahnende Hinweis, „daß es sich um die höchsten Güter eines Volkes, seine geistige und körperliche Gesund- 
heit handele“, wird abgewiesen mit der Bemerkung: „Za, wenn aber dabei die Mittel zum Leben verloren 
gehen und geringer werden, und der Arbeitslohn ausfällt, was helfen dem Volke dann die höchsten Güter, wenn 
es Hunger leiden muß?“ 
Fürst Bismarck hatte in der Frage der Sonntagsruhe selbst eine Enquete angeregt 
und zur Durchführung gebracht: ob die #Arbeiter und Arbeitgeber bereit seien, ihren 
Ausfall des Lohnes resp. der Produktion des siebenten Tages auf sich zu nehmen. Die 
Resultate der Enquete lagen vor und ergaben ein glänzendes Ergebnis zugunsten der 
Sonntagsruhe. Allein verbündete Regierungen und Reichskanzler hüllten sich in Schwei- 
gen, — von einer Vorlage war keine Rede. Bezüglich des Frauen- und Kinder- 
schutzes war die Frage nicht minder geklärt. Alle Parteien des Reichstages vereinigten 
sich in dem dringendsten Wunsche einer gesetzlichen Regelung. So 1887, 1888, 1889. 
In diesem Zahre (1889) war auf besonderen Wunsch des Herrn Staatssekretär von 
Boetticher die Verhandlung aufgeschoben worden, in der Hoffnung, daß dieser durch 
persönlichen Vortrag beim Reichskanzler in Friedrichsruhe eine günstigere Stimmung 
erwirken würde. Aber wiederum scharfe Ablehnung, die Herr Boetticher trotz seiner 
Beredsamkeit und persönlichen Konnivenz in seiner Rede vom 25. Januar 1889 unver- 
hüllt zum Ausdruck bringen mußte. Am 31. Januar erfolgte dieselbe Ablehnung bezüg- 
lich der Sonntagsruhe. Für die Freunde des Alrbeiterschutzes wurde es immer Larer, 
daß alle noch so wohlbegründeten Beschlüsse des Parlaments immer wieder scheiterten 
an dem Widerspruch des Fürsten Bismarck. Alle Hoffnungen — so schien es — waren 
für absehbare Zeiten begraben. 
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