Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
372 Die Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch. 
  
In dieser Stimmung erschien es plötzlich wie ein 
Aufleuchten einer neuen Zeit, als nach Ausbruch 
des großen Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier, an dem bald gegen 100000 Berg- 
leute in ganz Deutschland teilnahmen, am 14. Ma##1889 der junge Kaiser Wilhelm ll. 
den drei Bergarbeiterführern Schroeder, Bunte und Siegel auf ihr Ersuchen 
eine Audienz zur Aussprache ihrer Wünsche gewährte. Während bisher jeder Streik 
fast als Auflehmung und Revolution behandelt worden war, mußte schon die Tatsache 
dieser Audienz überraschen und tief in der ganzen Bevölkerung nachwirken. Oieser 
Eindruck wurde noch verstärkt durch die objektive, gerechte Beurteilung und landes- 
väterlich - wohlwollende Art, mit der sich der Kaiser als VBermittler zwischen die 
streitenden Parteien stellte. 
Zuerst empfing der Kaiser die Deputation der Bergarbeiter, und dann, am 16. Mai, die Arbeitgeber- 
Deputation: Landtagsabgeordneten Dr. Hammacher, Geh. Kommerzienrat Haniel, Bergrat von Belsen und 
Bergassessor Krabbler. In der Ansprache an die Bergarbeiter wie Arbeitgeber nimmt er als Recht und Pflicht 
landesväterlicher Fürsorge für sich in Anspruch: „den Beteiligten, den Arbeitgebern sowohl wie den Arbeitern 
seine Unterstützung bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten zuzuwenden“, um der „weitgreifenden 
Schädigung der gesamten Bevölkerung“ durch den Streik ein Ende zu machen. Mit Ernst hält er den Arbeitern 
ihr Unrecht vor, dessen sie sich durch Kontraktbruch, in einzelnen Fällen auch durch Drohungen und Auflehnung 
schuldig gemacht hatten. Dabei aber verspricht er ihnen gerechte Prüfung ihrer Forderungen, deren Er- 
gebnis ihnen mitgeteilt werden soll. Er unterscheidet scharf zwischen den berechtigten Bestrebungen der 
Arbeiter auf Verbesserung ihrer Lage, denen er sein Königliches Wohlwollen in Aussicht stellt, und den sozial- 
demokratischen Tendenzen, denen er „mit unnachsichtlicher Strenge“ entgegentreten will. Denn „jeder 
Sozialdemokrat ist ihm gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind“". Er behält sich vor, „über die Ur- 
sache des Streiks und die Mittel der Beseitigung“ sich noch eingehende Berichte seiner Behörden erstatten zu 
lassen. Herrn Hammacher spricht er seine Anerkennung aus, daß dieser zusammen mit dem Abgeordneten 
Schmidt (Elberfeld) den Versuch unternommen pbat, in Verhandlung mit der Arbeiterdeputation die Grund- 
lage zu einer Verständigung zu gewinnen. Aber diesen vorliegenden Fall hinaus aber richtet sich seine Mahnung 
an die Bergwerke-Gesellschaften und ihre Organe, „sich in Zukunft stets in möglichst naher Fühlung mit den 
Arbeitern zu erhalten, damit ihnen solche Bewegungen nicht entgehen, denn ganz unvorbereitet — so fügt 
der Kaiser bebeutungsvoll bei — kann der Streik sich unmöglich entwickelt haben.“ Und nun folgt ein allgemeiner 
Satz sozialer Weisheit und Mahnung, der später in den Februar-Erlassen wiederkehrt: „bafür Sorge zu 
tragen, daß den Arbeitern Gelegenheit gegeben wird, ihre Wünsche zu formulieren“, zugleich mit 
dem Appell an das Verantwortlichkeitsgefühl der Gesellschaften und der Erinnerung an ihre Pflicht dem 
Staate und den beteiligten Gemeinden gegenüber, für das Wohl ihrer Arbeiter nach besten 
Kräften zu sorgen und vor allen Dingen dem vorzubeugen, daß die Bevölkerung einer ganzen Provinz 
wiederum in solche Schwierigkeiten verwickelt werde.“ Dabei wird es als „menschlich natürlich" und damit 
auch als berechtigt hervorgehoben, „daß jedermann — also auch der Arbeiter — versucht, sich einen möglichst 
günstigen Lebensunterhalt zu erwerben“. Der Kaiser wird noch deutlicher, indem er fortfährt: „Die Arbeiter 
lesen Zeitungen und wissen, wie das Verhältnis des Lohnes zu dem Gewinne der Gesellschaften steht. Daß 
sie mehr oder weniger daran teilnehmen wollen, ist erklärlich. Deshalb möchte ich bitten, daß die 
Herren mit größtem Ernst die Sachlage jedesmal prüfen und womöglich für fernere Zeiten 
dergleichen Dingen vorzubeugen suchen.“ 
Noch nie war so scharf die Verantwortung der Arbeitgeber gegenüber dem Staat und den Gemeinden 
betont worden. Aie vorher war auch aus Königlichem Munde so oder auch nur ähnlich das Recht der Arbeiter 
auf einen entsprechenden steigenden Anteil an den Fortschritten der Produktion und der Gewinne und die 
Pflicht der Arbeitgeber, auch über diese Fragen in Fühlung und Verhandlung mit den Arbeitern zu treten, 
anerkannt worden wie bier. 
Die Mahnung fiel auf guten Boden; die eingeleitete Verständigung führte zur Beilegung des Streiks. 
Die zugesagte Untersuchung fand statt durch einen besonders beauftragten Kommissar, Geheimrat Gamp. 
Geh. Oberregierungsrat Dr. Hinzpeter (Bielefeld), der frühere Erzieher des Kaisers, von diesem hochverehrt 
und durch besonderes Vertrauen ausgezeichnet, unterrichtete den Kaiser fortlaufend über die Verhältnisse, 
Audienz der Bergarbeiter. 
  
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