VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 379
Millionen derjenigen, die vor allem unter der drückenden Sorge und Härte des Lebens
seufzen. Es galt der befreienden Erhebung des neu erstehenden und aufstrebenden
Standes der Industriearbeiter zur gleichberechtigten und gleichwertigen Eingliederung
in den gesellschaftlichen Organismus. Es war ein Werk des Friedens und der Ausgleichung
in der Zusammenarbeit aller Kulturstaaten zu hohen gemeinsamen Zielen und zur Festigung
der gesellschaftlichen Ordnung.
Das unmittelbar praktische Resultat war die gemeinsame Verständigung über eine
Keihe von Grundsätzen und Zielen, die für die Ausgestaltung des Arbeiterschutzes
als maßgebend anerkannt wurden.
Den Konferenzberatungen war von der deutschen Regierung ein ausgearbeiteten Programm zugrunde
gelegt. Die Beschlüsse der Konferenz stellen sich dementsprechend als Antworten auf die Fragen des Pro-
grammoe dar. Sie lleideten sich in die Form von „Wünschen“, die die Delegierten ihren Regierungen zu unter-
breiten sich anheischig machten. So wurde für die Arbeit in Bergwerken u. a. als „wünschenswert" bezeichnet,
daß Kinder unter 14 Jahren — in südlichen Ländern unter 12 JZahren — und Frauen überhaupt nicht unter
Tage beschäftigt werden. Hinsichtlich der Sonntagsarbeit sprach man sich dahin aus, daß allen geschützten
Personen und allen Industriearbeitern wöchentlich ein Ruhetag, vorbehaltlich gewisser Ausnahmen, und zwar
möglichst der Sonntag, gewährt werde. Für die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben wurde bestimmt,
daß die Altersgrenze auf 12, in südlichen Ländern auf 10 Jahre festgesetzt werde, daß diese Grenze allgemein
gelten solle; Kinder unter 14 Jahren dürften weder nachts noch Sonntags arbeiten, an den Wochentagen
nicht länger als 6 Stunden täglich. Von ungesunden und gefährlichen Betrieben sollten sie ganz ausgeschlossen
werden; auch sollten sie vor Eintritt in die gewerbliche Arbeit den Vorschriften über den Elementarunter-
richt genügt haben. Die jugendlichen Arbeiter beiderlei Geschlechts von 14—16 Jahren dürften weder nachts
noch Sonntags arbeiten, ihre effektive Arbeit solle 10 Stunden nicht überschreiten. Den jungen männlichen
A#rbe itten von 16—18 Jahren müsse Schutz gewährt werden in Betreff eines Maximalarbeitstages, der Nacht-
arbeit, der Sonntagsarbeit in besonders ungesunden und gefährlichen Betrieben. Die Regelung der Frauen-
arbeit solle dahin gehen, daß die Nachtarbeit allgemein verboten und daß eine effektive Arbeitszeit von höch-
stens 11 Stunden eingeführt werde. (Dgl. Dr. Franke, Der internationale Arbeiterschutz, Dresden 1903.)
Mit dem glänzenden Verlauf der Konferenz waren mit einem Male die Bestrebungen
des Arbeiterschutzes in allen Staaten Europas und darüber hinaus in den Vordergrund
des öffentlichen Interesses gerückt. Sie hatten ihre öffentliche feierliche Sanktion er-
balten. Keine Staatsregierung, keine Parteirichtung konnte sich der Pflicht entziehen,
ihnen Teilnahme und praktische Unterstützung zu leihen. Tatsächlich begann denn auch in
ganz Europa eine neue Periode produktiver legislatorischer Arbeit zur Durchführung der
als berechtigt anerkannten Forderungen sozialer Gerechtigkeit. So z. B. in England
das Gesetz von 1891, in Frankreich ein solches von 1892, in Holland von 1895, in Belgien
eingehende Königliche Verordnungen (Arrêtés ropaux) von 1892 usw. Wenn diese Ge-
setze und Verordnungen auch je nach dem Grade der industriellen Entwicklung, je nach
dem Stande der Kultur und der politischen Ideale und Auffassungen naturgemäß sich sehr
verschieden gestalten mußten, so bedeuteten sie doch alle einen bedeutsamen Schritt vorwärts
zu dem Ziel, das in der Konferenz glänzend und leuchtend vor aller Welt aufgestellt war.
Oie Fnitiative des jungen Kaisers wirkte aber über das
engere Gebiet der Gesetzgebung weit hinaus. Er
war tief davon durchdrungen und gab dem auch feierlich Ausdruck, daß die staat-
lichen Maßnahmen allein nicht genügten, daß vielmehr „der freien
Liebestätigkeit, der Kirche und Schule ein weites Feld segensreicher
Weitere Wirkungen.
827