380 Die Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch.
Entfaltung verbleibe, durch welche die gesetzlichen Anordnungen unterstützt
und befruchtet werden müßten, um zur vollen Wirksamkeit zu gelangen.“ (Rede im
Staatsrat.) Er appellierte an „die verständnisvolle und freudige Nitarbeit
aller Kreise der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter, um deren Wohlfahrt es
sich handle, und der Arbeitgeber, welche bereit sind, die für sie erwachsenden Opfer
zu bringen“. (Rede bei der Ausstellung für Unfallverhütung in Berlin 1889.) Alle,
welche ihm in seiner vornehmsten Sorge um das Wohl der arbeitenden Klasse behilflich
sein wollen, sind „ihm von Herzen willkommen, wer sie auch seien“". (Beim Festmahl des
Brandenburger Provinziallandtages 1890.) So wurden alle, die zu Kaiser und Reich
hielten, zur sozialen Mitbetätigung in der Richtung der edlen Ziele der Februar-Erlasse
aufgerufen. Der Kaiser wie die Kaiserin nahmen auch persönlich freudigen Anteil an allen
Bestrebungen zur Hebung der arbeitenden Klassen: Unfallverhütung, Wohnungsfürsorge,
Bekämpfung der Tuberkulose, der Säuglingssterblichkeit usw. Eine besondere Ordens-
auszeichnung, „Kaiser Wilhelm-Orden“, sollte der Anerkennung hervorragender sozialer
Verdienste dienen. Alle, welche sich in den Dienst der sozialen Ideen stellten, durften
wohlwollender Unterstützung sicher sein. Ein neuer sozialer Geist zog ein in die öffentlichen
Verwaltungen. Oie ganze öffentliche Meinung wurde mit sozialem Ol durchtränkt. Es
ging ein Frühlingswehen durchs Land, und eine Fülle schöpferischer Anregungen, die der
kalte Winter eines kurzsichtigen Egoismus und bureaukratischer Engherzigkeit im Banne
gehalten hatte, sprießten empor und reiften zu reicher Frucht. Alle Faktoren des öffent-
lichen Lebens wurden mit fortgerissen von diesem neuen Geiste: Staat und Gemeinde,
Schule und Kirche, Wissenschaft und Presse, Arbeitgeber und ihre Organisationen wie
Arbeiter. So war es nicht Zufall, daß mit der Entwicklung der Gesetzgebung insbeson-
dere auch die Bestrebungen der freien sozialen Wohlfahrtspflege und idealerer Auffas-
sungen und neuer Gestaltung der Armenpflege gleichen Schritt hielt. (Vgl. Soziale
Kultur und Volkswohlfahrt während der ersten 25 Regierungsjahre Kaiser Wilhelms II.
Berlin, Stilke 1913.) Und nicht bloß in Deutschland, sondern weit über unsere deutsche
Grenze hinaus, in der ganzen modernen Kulturwelt wurden die Ideen der Februar-
Erlasse lebendig und fruchtbar.
Mit besonderem Dank wurde es von den deutschen Katholiken empfunden, daß der Kaiser sich in einem
persönlichen Schreiben an den hl. Bater wandte und den Fürstbischof Dr. Kopp (Breslau) als Delegierten
zur Teilnahme an den Beratungen bestimmte. Papst Leo XIII., der schon in einer Ansprache an einen Pilger-
zug französischer Arbeiter am 20. Oktober 1889 sich warm für die Forderungen des Arbeiterschutzes ausge-
sprochen hatte, dankte in einem eingehenden Schreiben, worin er die freudige Unterstützung der Bestrebungen
durch die moralische Einwirkung der katholischen Kirche und des Klerus in Aussicht stellte. In diesem Sinne
richtete dann der hl. Bater unterm 20. April ein Schreiben an den Herrn Erzbischof Krementz (Köln) als Vor-
sitzenden der jährlichen Bischofskonferenz in Fulda. Die deutschen Bischöfe nahmen daraus Veranlassung,
in einem besonderen ausführlichen Hirtenbrief vom 23. August ihre Auffassung und Stellung zur Arbeiter-
frage darzulegen und Klerus und Volk zu nachdrücklicher Mitarbeit zu ermahnen. Im September 1890 tagte
in Lüttich unter dem Vorsitz des Bischofs Doutreloux eine katholische internationale Arbeiterschutz-
konferenz, an der zehn Bischöfe (darunter aus Deutschland Bischof Korum-Trier und Weihbischof Fischer-
Köln) teilnahmen, deren Beschlüsse über die der Berliner Arbeiterschutzkonferenz weit hinausgingen. Am
15. Mai 1891 folgte dann die grundlegende Enzyklika Leos XIII. über die Arbeiterfrage, welche die letzten,
speziell bei den Katholiken Frankreichs und Belgiens noch bestehenden Bedenken gegen eine staatliche Inter-
vention beseitigte und damit der deutschen Auffassung wirkungsvoll die Wege geebnet hat.
828