VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 385
sich in der Konkurrenz auf dem Weltmarkte glänzend behauptet. Die Arbeitgeber haben
sich auch bald damit abgefunden. Nur im Handelsgewerbe machten sich wegen der Neu-
beit solcher Eingriffe lebhaftere Widerstände geltend. Die Arbeiter haben den Segen
des Gesetzes dankbar empfunden.
So setzten sich auch hier bald die Bestrebungen auf Ausdehnung der gesetz-
lichen Bestimmungen, auf Verschärfung ihres Inhalts — ebenso wie auf dem Gebiet
der Arbeiterversicherung — mit Erfolg durch. Im Jahre 1892 wurde die „Kommission
für Arbeiterstatistik“ (seit 1902 als „Beirat für Arbeiterstatistik“ dem Kaiser--
lichen Statistischen Amt angegliedert), zusammengesetzt aus einer gleichen Anzahl von
Vertretern des Bundesrates und des Reichstages, gebildet insbesondere auch zu dem
Zweck, durch Erhebungen den Erlaß von Bundesratsverordnungen zur Regelung der
Arpbeitszeit („Sanitärer Mazimal- Arbeitstag") auf Grund des Arbeiterschutzgesetzes
(F§ 120 e) wirksam vorzubereiten.
Dandlungsgehilfenschutz. Für das Handelsgewerbe hatte die Arbeiterschutz-
Novelle von 1891 nur die Sonntagsruhe geregelt.
Eingehende Erhebungen der Kommission für Arbeiterstatistik hatten aber ergeben, daß
namentlich in den offenen Verkaufsgeschäften in weitem Maße eine Uberanspannung
der Gehilfen und Lehrlinge herrschte.
Es stellte sich die Ladenzeit in mehr als 50% der Ladengeschäfte auf täglich 14 Stunden und mehr.
Die Arbeitszeit deckte sich im Durchschnitt mit dieser Ladenzeit, dehnte sich aber namentlich für die Lehrlinge
(durch Aufräumungsarbeiten usw.) oft weiter aus, so daß von diesen ca. 40% mehr als 15 Stunden arbeiten
mußten. In Tabak- und Zigarrengeschäften, in den Nahrungsmittel-, Kolonial- und Materialwarengeschäften
erhöhte sich die Ladenzeit in 64% auf mehr als 15 Stunden.
Diesen Mißständen wurde durch die Gewerbeordnungs-Novelle vom 30. Juni 1900
gesteuert.
Kinderschutzgesetz. Ein prinzipiell wie praktisch gleich bedeutsamer Schritt war
das Gesetz betreffend die Kinderarbeit in gewerblichen
Betrieben vom 30. März 1905. Oie prinzipielle Bedeutung lag darin, daß die Gesetz-
gebung hier zum ersten Male die Schranke der Familie, die bisher immer sorgsam
gewahrt worden war (GO. 134), überschritt und auch der elterlichen Gewalt in Be-
schäftigung der Kinder Grenzen setzte. Die praktische Bedeutung findet ihre beste Be-
leuchtung in den erschreckenden Resultaten, welche die Erhebungen über die gewerb-
liche Kinderarbeit (außerhalb der Fabriken) ergeben hatten. (Siehe Bierteljahrshefte
zur Statistik des Reiches 1900, Heft 3.)
Wiewohl die Untersuchung nicht alle Gebiete des Reiches und nicht alle Zweige der gewerblichen Tätig-
keit umfaßte, wurden doch 532 283 gewerblich beschäftigte Kinder in noch nicht oder noch schulpflichtigem Alter
ermittelt; davon mehr als die Hälfte: 306 823 in der Industrie; nahezu ein Drittel: 171 739 als Austräger,
Laufburschen usw., in Gast- und Schankwirtschaften 21 620; im Handelsgewerbe 17 623. Bezüglich der Dauer
der Arbeitszeit ergab sich, daß in Preußen 110 682, d. i. mehr als 41% der sämtlichen Kinder, mehr als drei
Stunden täglich beschäftigt wurden, davon 55 933 sechsmal, 7621 siebenmal in der Woche, also auch Sonn-
tags. Dabei wurde vielfach von Arbeitszeiten bis zu zehn Stunden täglich berichtet. Neben den Kindern
die in früher Morgenstunde und spät Abends mit Botengängen tätig sein mußten, wurden andere mit lang-
dauernder Nachtarbeit getroffen.
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