VI. Buch. Die Arbeiter-Sozialpolitik. 411
Treuc, alle die idealen Anlagen, die auch im deutschen A#rpbeiterstande lebendig sind und
in ihrer Weise — nach den gegebenen Auffassungen und Strebungen, auch in den Ver-
irrungen — unsere aufrichtige Bewunderung verdienen, für dauernd versagen? — Das
kann nicht sein, trotz aller trüben Bilder, die sich heute noch bieten.
Gewiß, die deutsche Sozialdemokratie ist stetig
gewachsen — trotz aller Sozialpolitik. Mit
Hohn hat man darauf bingewiesen, daß gerade nach den Februar-Erlassen die Zahl
der sozialdemokratischen Stimmen von 763 000 (1887) auf 1 427 000 (1890) empor-
schnellte. Bielfach ist diese Tatsache sogar als Erweis der Zweckmäßigkeit des Sozialisten-
gesetzes geltend gemacht worden. Allein diese gewaltige Steigerung der sozialdemo-
kratischen Stimmen bewies doch nur, daß das Sozialistengesetz wohl die äußere Betäti-
gung gehemmt, aber nicht die inneren Uberzeugungen geändert hatte. Umgekehrt, die
Februar-Erlasse wurden von der Sozialdemokratie als die Anerkennung des „Unrechts“,
wie es im Sozialistengesetz ausgeübt sei, hingestellt und so erst recht wahlagitatorisch
ausgenützt, — der beste Beweis, wie die erziehliche Wirkung des Sozialistengesetzes ver-
sagt hatte. Aicht die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen bestimmt den Grad ihrer
Gefahr für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung, sondern die innere Gesinnung und
die Bereitwilligkeit zur revolutionären Tat. Solange die Massen noch an die Macht
des Stimmzettels glauben und diesen Glauben freudig betätigen, ist die Gefahr der
Revolution noch nicht akut. Es ist das Bentil, durch das die innere Unzufriedenheit zur
Auswirkung kommt, und es wäre eine falsche Politik, die gewaltsame Explosion damit
verhüten zu wollen, daß das Bentil verschlossen wird.
Die Sozialdemokratie ist eine Bewegung von weltgeschichtlicher Bedeutung, die sich
nicht in einigen wohlgemeinten Maßnahmen der Sozialpolitik erschöpft. Sie stellt eine
neue Weltanschauung dar, die zwar vor allem durch die sozialen Mißstände ihre um-
fassende Bedeutung gewonnen hat, die aber nicht durch Milderung dieser Mißstände nun
ebenso schnell wieder beseitigt wird. Sie greift die tiefsten Fundamente der bestehenden
Gesellschaftsordnung an. Sie hat die Massen mit dem Fanatismus einer neuen Religion
erfüllt.
Die innere Versöhnung und Wiedergewinnung der so verhetzten Massen
kann nur das Werk vieler FLJahrzehnte allseitiger, sostematischer pflicht-
treuer und opferwilliger Arbeit in Schule, Kirche, Gesellschaft und Staat
sein, kann vor allem nur durch die vereinigten Bemühungen von sozialem Pflichtgefühl
durchdrungener Arbeitgeber und der ruhigern, gerecht und vernünftig denkenden Arbeiter
und ihrer Organisationen gesichert werden. Was in JZahrzehnten versäumt worden
ist, kann nicht in Fahrfünften wieder gutgemacht werden. Umngekehrt erfor-
dert es die Arbeit von Generationen, die Einbußen in unsern sittlichen
Volkskräften wieder auszugleichen, unser Volk wieder mit dem freudigen
Glauben und Vertrauen in den Bestand unserer Gesellschaftsordnung und
den gerechten Sinn der dirigierenden Klassen zu erfüllen, das Gefühl der
christlichen Solidarität, der Liebe zu Baterland und Kirche neu zu beleben
Wachsen der Sozialdemokratie.
859