Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
412 Die Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch. 
  
und zum Gemeingut der ganzen Nation zu machen. Das ist eine Erziehungs- 
aufgabe, die Generationen umfassen und vor allem bei der Zugend einsetzen muß. Die 
Keform muß vor allem von den lebendigen Kräften des Christentums getragen und 
gestützt sein. 
Was man von der Sozialreform vernünftiger- 
weise erwarten durfte, hat sich zum guten Teil 
erfüllt. Die wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Lebenshaltung unseres Arbeiter- 
standes hat sich mächtig gehoben. Die berechtigten stürmischen Anklagen haben 
sich gemildert; ihnen sind die Unterlagen zum guten Teil entzogen. Die Stimmen 
dumpfer Verzweiflung und roher Gewalt sind versiummt. Das Vertrauen in die Ent- 
wickelung der Dinge ist gewachsen. Revisionismus und selbstvertrauende Gewerkschafts- 
arbeit gewinnen an Boden. Oie Sozialdemokratie hat zwar an Zahl zugenommen, 
aber zu wesentlichem Teil nur, weil man in ihr die treibende Kraft zum Fortschritt 
erblickte. Die wissenschaftlichen Unterlagen des Sozialismus: die Verelendungstheorie 
und die Katastrophentheorie mit der Vorstellung einer plötzlichen, gewalttätigen Um- 
wandlung aller Verhältnisse, die Konzentrationstheorie mit dem Ausblick auf die „natur- 
notwendige“ Uberführung aller privaten Produktionsmittel in das Eigentum der Gesell- 
schaft, der Glaube an die „eine reaktionäre Masse“ der bürgerlichen Parteien usw. sind 
erschüttert. Ihr Erfurter Programm ist durch die Kritik aus den eigenen Reihen vollends 
unterhöhlt, und Anläufe zur Aufstellung eines neuen Programms sind aufgegeben. Der 
Glaube an eine neue gesellschaftliche Ordnung voll Harmonie, Glück und Frieden — den 
Zukunftsstaat — wird in den eigenen Reihen nicht mehr ernst genommen. Statt 
solchen Zukunftsphantasien nachzujagen, rechnet man mit der bestehenden 
Gesellschaftsordnung und sucht hier Einfluß zu gewinnen. Während die 
sozialdemokratische Partei im Reichstage noch alle grundlegenden Gesetze der Arbeiter- 
versicherung und des Arbeiterschutzes ablehnte, hat sie den Novellen ihre Zustimmung 
gegeben. Statt des bloßen bittern Hohnes auf die „Bettelpfennige“ der Arbeiter- 
versicherung möchte sie heute für sich das Verdienst ihrer Einführung in Anspruch nehmen. 
Die „Sozialistischen Monatshefte“, das „Korrespondenzblatt“ der Generalkommission 
der sozialdemokratischen Gewerkschaften Deutschlands usw. vertreten mit Nachdruck 
den Glauben an den Fortschritt der arbeitenden Klassen. Im Wetteifer mit dem 
„Vorwärts“ verteidigen sie unsere Sozialreform gegen die Angriffe des Professor 
Bernhard („Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik“, Berlin 1912) und ver- 
langen ihren weiteren Ausbaul). Statt des bloßen Räsonierens arbeiten die sozial- 
demokratischen Arbeiter in den sozialpolitischen Organisationen: Krankenversicherung, 
Unfallversicherung, Invalidenversicherung, Gewerbegerichten usw. eifrig mit. Wenn auch 
die parteipolitische Ausnutzung mitspricht, jedenfalls sind sie gezwungen, auch mit den 
Schwächen, Unehrlichkeiten und Leidenschaften der „Genossen" den Kampf aufzunehmen 
Wirkungen der Sozialreform. 
  
) Dgl. „Sozialistische Monatshefte“ 1912 S. 1496ff., 1915 S. öff., 110 ff.; „Korrespondenzblatt“ 
1915, Nr. 4—8. P. Kampffmeyer, Vom Kathedersozialismus zum Kathederkapitalismus. Ludwigs-- 
hafen 1913. 
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