416 Das Bevölkerungsproblem. VI. Buch.
beim weiblichen im Alter von 30—40 Zahren außerordentlich gesunken, aber auch dar-
über hinaus hat sie eine phänomenal zu nennende, in der Geschichte des deutschen Volkes
sicher ähnlich nie vorher zu registrieren gewesene Abnahme erfahren. IZnsgesamt rücken
heute sehr viel größere Massen als früher in das sogenannte mittlere Alter ein. Zen-
seits des sechzigsten, und zumal siebzigsten Jahres ist die Sterbewahrscheinlichkeit nicht
in dem Maße wie in den jüngeren Altersklassen zurückgegangen, was sich aus dem
Zuzug erklären dürfte, den die mittleren Altersstufen heute durch Personen erfahren,
die früher in jüngerem Alter abgegangen wären und die die Durchschnittsqualität der
in das mittlere Alter Gelangenden herabsetzen.
Die Zahl der Sterbefälle war im Jahre 1910: 1 103 725. Es ist die niedrigste Ziffer
seit der Gründung des Reichs, trotzdem die Bevölkerung seitdem um 58% gewachsen ist.
Absturz der Geburtlichkeit. Ohne diesen RKückgang der Sterblichkeit hätte das
Deutsche Reich heute keine Bevölkerungsvermeh-
rung mehr! Bei der Sterblichkeitsquote von 1872 wären im Jahre 1910 1 986 000 Men-
schen gestorben, wogegen nur 1 983 000 geboren wurden. In diesen Mißverhältnissen
offenbart sich der gleichzeitig mit dem Rückgang der Sterblichkeit erfolgte Absturz der
Geburtlichkeit, das „Bevölkerungsproblem“ unserer Tage.
Es kamen auf 1000 Einwohner des Deutschen Reichs im Jahresdurchschnitt Geborene:
187/80 40,7
18819000 38,2
1911 29,5
In der Hauptsache entfällt danach der Rückgang der Geburtlichkeit auf die Negie-
rungszeit unseres Kaisers. Der Rückgang vorher war verhältnismäßig unbedeutend.
Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man die Zahl der Geborenen statt zu der
gesamten Bevölkerung zu der Zahl der 15 bis 50 Jahre alten weiblichen Personen in
Beziehung setzt. Stwas stärker als diese sog. allgemeine Fruchtbarkeitsziffer ist hingegen
die sog. „eheliche Fruchtbarkeitsziffer“ gesunken, d. h. die auf je 1000 Ehefrauen im
Alter unter 50 Jahren entfallene Geburtenziffer. Betrachtet man die Regierungszeit
Kaiser Wilhelms IlI. wieder für sich, so bestätigt sich, daß dem letzten Jahrzehnt vorbehalten
war, mehr zu „leisten“ als der ganzen Zeit vorher. Im vorigen Jahrhundert langsam
in gleitende Bewegung gekommen, wird die Raschheit, mit der die Kugel abwärts rollt,
in dem unseren (fürs erste) immer größer. Es hängt das mit der Klassenschichtung in
unserer Gesellschaft und dem Aufbau der Klassen als Ppramide zusammen. Infolge-
dessen traf die Übung der Beschränkung der Kinderzahl, indem sie von oben nach unten
sickerte, immer breitere Schichten und ließ, auf die gesamte Volkszahl aufgetragen, den
Rückgang immer größer werden. Trotz des ungestümen Tempos der letzten Zeit stehen
wir erst im Beginn des Prozesses. Der zu durchmessende Weg liegt aller Wahrscheinlich-
keit nach erst zum lleinsten Teile hinter uns.
Das Maß des bisherigen Rückgangs ist in den einzelnen Reichsteilen ein sehr ver-
schiedenes. In Preußen war der Absturz am größten in Berlin, im Deutschen Reich am
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