420 Das Berölkerungsproblem. VI. Buch.
Auffassung steht Tönnies jedoch bisher allein. Es ist ihm jedenfalls nicht gelungen,
einen ernst zu nehmenden Beweis dafür zu führen.
Mehr als bloße Vermutung ist dagegen die Erklärung des Geburtenrückgangs aus
der Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Eine gewisse Zunahme wird durch die Statistik
zumeist wahrscheinlich gemacht und der schädliche Einfluß der Geschlechtskrankheiten auf
die Fruchtbarkeit steht außer Zweifel. Diese Zunahme der Geschlechtskrankheiten ist
aber lange nicht groß genug, um sie, wie es neuerdings Theilhaber unter dem Schlag-
worte der sexuellen Not der Tugend getan hat, zu einer der Hauptursachen des Ge-
burtenrückgangs zu stempeln, ganz abgesehen davon, daß sie den Nückgang der Geburt-
lichkeit auf dem Lande, wo eine Zunahme der Geschlechtskrankheiten sich micht feststellen
läßt, zu erklären außer stande ist.
Voneinerlange bindurch gut akkreditierten Theorie wird der gestiegene Wohlstand
als Ursache des Geburtenrückgangs ausgegeben, weil der Wohlstand dem Wirtschafter
Erwägungen vermittle, denen zufolge eine geringere Kinderzahl vorteilhafter sei. Für
diese Theorie hat noch kürzlich, in einer Abhandlung für die baperische Akademie der
Wissenschaften, Lujo Brentano, gleich seinem Schüler Mombert, eine Lanze gebrochen.
Erfahrungen ausjüngerer Zeit—Beschränkung der Kinderzahl bei Lehrern und Arbeitern—
widersprechen dieser Theorie. Dementsprechend ist von Zulius Wolf schon 1901 nicht
der Wohlstand, sondern die wachsende „Kultur“ und deutlicher und schärfer 1912 die
„RKationalisierung“ unserer ganzen Lebensführung als der Schuldige bezeichnet worden.
Oanach ist es im wesentlichen der rechnerische Kalkül, die rein verstandesmäßige, der
überkommenen Sitte nicht achtende Uberlegung, wieviel Kinder dem Lebensgenuß am
zuträglichsten sind, was den Rückgang der Geburtenzahl in unserer Zeit entscheidet und
ihm den besonderen Charakter verleiht. Dieser rechnerische Kalkül, früher nur in den oberen
Schichten üblich, dringt im Maße der „Aufklärung“, religiöser und intellektueller, in immer
weitere Kreise, und da in den Schichten der Armut und des Mittelstandes die Kleinhal-
tung der Familie in der Tat eine nicht geringe Entlastung bedeutet, wird die Zahl der
Kinder in der Ehe immer mehr beschränkt. Doppelt werden Kinder als ein Gewicht
am Fuße der Eltern zu einer Zeit empfunden, in welcher die Frau eine steigende Rolle
im Erwerbsleben spielt, da Schwangerschaft, Geburt und das Schonungsbedürfnis
der Wöchnerin ebensoviele Erwerbshindernisse bedeuten. Das Gegenstück des ratio-
nalistischen Kalküls ist die kirchliche Gesinnung, insbesondere die katholische Welt-
anschauung, die ganz und gar in Tradition verankert ist, einer Tradition, die jede Ein-
schränkung der Geburten verdammt.
Gegen die Erklärung des Geburtenrückganges aus der Anderung der psfychischen
Struktur der Massen ist von Teilhaber der Einwand erhoben worden, dieser Erklärung
liege die „irre“ Voraussetzung zugrunde, daß die Menschheit noch vor 20 Zahren „voll
und ganz von der Orthodozie beherrscht gewesen wäre, während sie jetzt durchaus anti-
religiös sein soll.“ Diese Superlative sind, zumal der zweite, unangebracht. In Wahr-
heit war aber vor 20 Jahren nur eine geringfügige Minderheit der Religion entfremdet
und jetzt ist es eine immer noch wachsende Mehrheit.
In die Erklärung des Geburtenrückgangs aus der „Rationalisierung des Geistes-
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