6 Staat und Kirche. VIII. Buch.
heute eine Reihe von Einzelprivilegien, die aber wiederum eine größere Abhängigkeit
der Kirche vom Staate zur Folge haben; in diesem Sinne hat auch die Verfassungs-
urkunde von 1850 das Verhältnis der großen christlichen Kirchen zum Staate festgelegt.
Als das wichtigste dieser Privilegien wird heute die finanzielle Dotierung der
beiden Kirchen durch den Staat zu betrachten sein, das seine rechtliche Grundlage
in dem nach der großen Säkularisation des Kirchengutes infolge des Lüneviller Friedens
von 1801 erlassenen Reichsdeputationshauptschlusse von 1803 hat; auf Grund dieses
Reichsgesetzes des alten Reiches stellt auch Preußen, nach Maßgabe des alljährlichen
Staatshaushaltsgesetzes, bedeutende Geldmittel für die evangelische wie die katholische
Kirche bereit, und durch zahlreiche neuere Gesetze hat der Staat diese finanzielle Rechts-
pflicht für beide Kirchen in letzter Zeit in umfassender Weise und durch weitgehendes
Entgegenkommen neu geregelt. Insoweit das eigene Vermögen und die staatliche
Dotation für die Deckung der kirchlichen Bedürfnisse nicht zureichen, sind auch die „Landes-
kirchen“, ebenso wie die anderen Religionsgesellschaften, auf den Weg der Besteuerung
ihrer Mitglieder angewiesen; das Problem der kirchlichen Besteuerung hat für die Landes-
kirchen durch eine sehr umfangreiche Kirchen- und Staatsgesetzgebung der letzten Jahr-
zehnte eine große spstematische Lösung erfahren.
VII. Die Kirchenverfassung hat für die katholische Kirche durch das Vatikanische
Konzil von 1870 unter großen geistigen Bewegungen eine Ausgestaltung in den Dogmen
von der Unfehlbarkeit und dem Universalepiskopat des Papstes gefunden, deren Folge
die Abtrennung eines kleinen Teiles von Katholiken von der römisch-katholischen. und
die Gründung der altkatholischen Kirche war, die die Anerkennung und finanzielle
Hilfe des Staates Preußen gefunden hat. «
In der evangelischen Kirche blieb das landesherrliche Kirchenregiment grundsätz-
lich erhalten; der Erlaß einer neuen Agende 1829 führte zur Absplitterung der sog.
Altlutheraner von der Landeskirche. Durch eine umfangreiche Staats- und Kirchen-
gesetzgebung wurde von 1873—1876 die Landeskirche der neun alten Provinzen mit
spnodalen Gemeindeorganen in der Stufenfolge: Einzelgemeinde, Kreis, Pro-
vinz und Landeskirche (Generalsynode) ausgestattet; analoge Neugestaltungen oder Fort-
bildungen erfolgten auch in den Landeskirchen der drei neuen Provinzen. Ihren grund-
sätzlichen Abschluß haben diese gesetzgeberischen Arbeiten schon vor 1888 gefunden.
VIII. Die Verfassungsurkunde erkennt, wie oben bemerkt, das durch die histo-
rische Entwickelung gegebene Landeskirchentum grundsätzlich an und so sind die Dinge
bis zum heutigen Tage geblieben. Die weitaus große Mehrzahl der Bevölkerung des
Staates gehört den beiden großen christlichen Landeskirchen an. Demgemäß bestimmt
die Verfassung (Art. 14), daß „die christliche Religion bei denjenigen Einrichtungen,
welche mit der Religionsübung im Zusammenhange stehen, zum Grunde gelegt wird.“
Aber die Verfassungsurkunde erkennt gleichzeitig, übereinstimmend mit dem All-
gemeinen Landrecht, den Grundsatz der vollkommenen Gewissensfreiheit an und
zieht daraus die unmittelbare Folgerung, daß auch die Bildung neuer Religionsgesell-
schaften gestattet sei. Die letzte Schlußfolgerung aus dem Prinzip der Gewissensfreiheit
enthält sodann das Gesetz vom 15. Mai 1873, welches den Austritt aus jeder kirch-
974