VIII. Buch. Staat und Kirche. 7
lichen Gemeinschaft durch gerichtlich abzugebende Austrittserklärung gestattet und
deren Rechtswirkungen feststellt. „Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Ver-
einigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen
Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen
Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse“ (Art. 12, Satz 1 u. 2). Dieser
letztere Grundsatz hat weiterhin seine Anerkennung für das ganze Reich gefunden in dem
Gesetze v. 3. Zuli 1869. .
Die Verfassungsurkunde spricht aber ferner auch mit Schärfe den Grund-
satz aus, daß die Voraussetzung jeder Gewissensfreiheit in Preußen der
Gehorsam gegen die Staatsgesetze ist, gleichfalls in bereinstimmung mit
dem Allgemeinen Landrecht. „DOen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten
darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen“ (Art. 12 S. J.
Der ursprüngliche Text der Verfassungsurkunde hatte ferner noch, dem Gedanken
der Gewissensfreiheit und den Bewegungen der Zeit folgend, den Grundsatz von der
„Selbständigkeit“ der evangelischen und der katholischen Kirche ausgesprochen. Als
im JZahre 1873 die Notwendigkeit einer spstematischen Neugestaltung des staatlichen
Aufsichtsrechtes zu einer umfassenden Gesetzgebung führte, der von seiten der katholischen
Kirche unter Berufung auf die „Selbständigkeit“ der Kirche heftiger Widerstand ent-
gegengesetzt wurde, wurden die Verfassungsartikel über die Selbständigkeit der Kirche
(15, 16, 18) aufgehoben, um in Zukunft eine der Souveränität des Staates wider-
sprechende Auslegung dieser Vorschriften abzuschneiden. Inzwischen ist der größte
Teil jener Gesetzgebung aus der Zeit des sog. „Kulturkampfes“ wieder
beseitigt, die Verfassungsartikel über die „Selbständigkeit“ der Kirche aber
nicht wiederhergestellt worden. In Wirklichkeit aber besteht diese Selb-
ständigkeit der Kirche unter richtiger Auslegung des Begriffes auch heute
zu vollem Rechte: die katholische Kirche erfreut sich einer überaus weitgehenden
Freiheit in Preußen, und das Wort Pius' VI.: „wir bekennen, daß wir dem Helden-
könige für seine Billigkeit, welche nicht der letzte unter seinen Ruhmestiteln ist, zum größten
und unsterblichen Danke verpflichtet sind“, gilt auch für die Regierung Wilhelm IEl.
Für die evangelische Kirche aber hat der Gedanke der Selbständigkeit in der Durch-
führung der Synodalverfassung eine großartige neue Gestaltung gefunden.
So ist das Verhältnis von Staat und Kirche in Preußen, das heute besteht, durch-
aus ein Ergebnis der Geschichte. Nach den schweren Kämpfen zwischen Staat und Kirche
in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist im Zeitalter Wilhelm ll. eine Periode
der Ruhe eingetreten. Aber unter dieser äußeren Ruhe bestehen, besonders in der evange-
lischen Kirche, tiefe Gegensätze innerkirchlicher Art. Im Rahmen des Landeskirchen-
tums sind diese Gegensätze äußerlich verbunden. Ob dies auf die Dauer möglich bleiben
oder ob, um Religion und Gewissensfreiheit zu erhalten, auch für Preußen die Trennung
von Staat und Kirche zur harten Notwendigkeit werden wird, steht in Gottes Hand.
„Uber die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst allein.
— — Denn es ist ein frei Werk um den Glauben, dazu man niemand kann zwingen.“
(Luther).
975