VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Cheologie. 9
überall gleichartige Erscheinung ist, sondern die verschiedensten Grundzüge zeigt.
Beides hängt indessen eng zusammen.
Will man das Phänomen der Unkirchlichkeit unserer
Zeit verstehen, so muß man ihre verschiedenen
Typen unterscheiden. Für eine ganze Kategorie sagen
wir „moderner“ Menschen besteht sie wesentlich in einer mehr oder weniger bewußten
Entfremdung vom Kultus. Sie sind dort zu suchen, wo man, ohne der Religion und
dem Christentum verständnislos oder gar gegnerisch gegenüberzustehen, dennoch sich von
den gottesdienstlichen und überhaupt kirchlichen Formen unbefriedigt oder abgestoßen fühlt.
Hier hat man mit Bewußtsein die Lebenswendung mitgemacht, die sich immer deutlicher
im 19. Jahrhundert angebahnt hat, die Wendung von dem Objektivismus, Autoritäts-
gefühl und Zenseitsbewußtsein der alten Zeit zu dem modernen Subjektivismus,
Zndividualismus und Diesseitigkeitsgedanken. Hier ist ein neuer Lebenstypus ent-
standen und mit ihm eine neue individualistisch und spiritualistisch geartete Frömmig-
keit, welche sich von der hergebrachten Predigtweise formell und inhaltlich unbefriedigt
fühlt und die kultischen Formen der kirchlichen Religiösität als viel zu äußerlich, realistisch,
formalistisch und unmodern empfindet. Auch spricht hier häufig ein sehr empfindliches
ästhetisches Gefühlsleben mit, eine überzarte Scheu vor der Profanierung innerer
Heiligtümer und ein Selbständigkeitsbewußtsein, das jede seelsorgerliche Bevormun-
dung vor allem von seiten eines „amtlichen“ Bertreters der Religion ablehnt.
Entfremdung vom Kultus.
Subjektivismus.
Ganz anders geartet ist die Unkirchlich-
keit jener großen Schicht äußerlich zur
Kirche Gehöriger, deren Ankirchlichkeit ebenso auf Entwöhnung beruht, wie einst die
Kirchlichkeit ihrer Vorfahren auf Gewohnheit. Diese Erscheinung hängt in erster Linie
mit der enormen Fluktuation der Bevölkerung zusammen, die seit dem Freizügig-
keitsgesetz die Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit unseres Volkes immer mehr aufhebt,
zur Entvölkerung des platten Landes, zur Anhäufung gewaltiger Massen in den Groß-
städten und damit zur Auf hebung aller volkstümlichen Traditionen und Sitten
führt. Die Abwanderung in die Großstädte bedeutet für Zahllose einen übergang von
der organischen zur atomistischen Lebensform, dessen nächste und charakteristischeste
Wirkung die völlige Lösung des heimatlichen Verhältnisses zur Kirche zu sein pflegt.
Entwöhnung von Tradition und Sitte.
Der tiefere Grund dieser Massenent-
kirchlich un gliegtfreilich in der äußer-
lichen Richtung, die unser Kultur-
leben im 19. Zahrhundert eingeschlagen hat. Die tiefreligiöse und echt idealistische Grund-
tendenz der nationalen Erhebung von 1813 ist im Laufe des Jahrhunderts immer stärker
durch die äußere Kulturentwickelung zurückgedrängt worden. Das ist verständlich, denn
es galt in der Tat zuerst den deutschen Volkskörper zu konsolidieren. Die Faktoren, die
das Leben des 19. Jahrhunderts beherrschten, waren in erster Linie der national-
Grund in der Kulturveräußerlichung.
Praktischer Mater ialismus.
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