Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
10 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch. 
  
politische, der naturwissenschaftlich-technische, der wirtschaftlich-kapitali- 
stische. Durch sie ist besonders zu Ende des Zahrhunderts das deutsche Volk auf einen 
ungeahnten Höhepunkt der Macht und des Wohlstandes gehoben. Aber dies konnte nicht 
ohne bedenkliche Rückwirkungen auf das geistige und religiös-sittliche Leben der Nation 
geschehen. Kulturveräußerlichung und Kulturseligkeit war die fast unvermeid- 
liche Folge des neuen wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Herrschaft des Erwerbsge- 
dankens, des Geldes und der Technik hat im Verein mit dem Luxus und der gesteigerten 
Genußsucht eine sittliche Laxheit und religiöse Gleichgültigkeit erzeugt, welche, je länger je 
mehr, besonders in den Kreisen des schnell reich gewordenen Bürgertums, zu nahezu 
völliger Entwöhnung vom Kirchenbesuch geführt hat. Die gewohnheitsmäßige Un- 
kirchlichkeit eines satten Bürgertums steht unter dem Zeichen des praktischen Mate- 
rialis mus. 
Sntellektuelle Gründe. Wesentlich tiefer begründet ist die Un- 
. kirchlichkeit derer, die aus vorwiegend 
Hie historischen Wurzeln weit zurück. intellektuellen Gründen mit der 
christlichen Weltanschauung zerfallen sind. Die bistorischen Wurzeln dieses Zerfalles 
liegen weit zurück. Bereits im Zeitalter der Renaissance beginnt der Prozeß 
allmählicher Auflösung der Weltanschauungseinheit unseres Volkes, der um 
die letzte Zahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht hat. Die Schuld an der zunehmen- 
den Entfremdung zwischen dem neuen selbständigen Kulturleben und der kirchlichen Welt- 
anschauung liegt auf beiden Seiten. Einmal verbündete sich die altprotestantische Kirche 
anstatt mit dem neu aufstrebenden noch einmal wieder mit dem absterbenden Geistes- 
leben; sodann drang bei uns über England und vor allem Frankreich immer mehr ein 
radikal-kritischer und naturalistischer Geist ein, der seine Spitze immer deutlicher und 
feindlicher gegen die Kirche kehrte. 
  
  
Durch den Monismuoe ist die Weltanschau- 
ungszerrissenheit unseres deutschen Volkes 
neuerdings besiegelt. Der Monistenbund macht ebenso wie die Sozialdemokratie Pro- 
paganda für den Austritt aus der Kirche. Er möchte das Sammelbecken für alle un- 
kirchlichen Elemente der gebildeten Kreise sein. In Wirklichkeit ist es die breite Schicht 
der Halbgebildeten, wo Haeckels Welträtsel ihre Triumphe feiern. Auf der Höhe der 
Bildung und Intelligenz, Kunst und Wissenschaft begegnet man zumeist einer vornehmen 
Ablehnung des Monismus sowohl wie der kirchlichen Weltanschauung. Hier stoßen wir 
vielmehr auf einen ästhetisch gearteten Pantheismus oder auf einen Skeptizismus 
und Agnostizis mus, der auf jede Weltanschauungsbildung verzichtet. Einen beson- 
deren Typus der Unkirchlichkeit bildet endlich die offizielle Sozialdemokratie. Hier 
steigert sich die Entfremdung zur förmlichen Kirchenfeindschaft. Die Ursachen liegen 
vor allem auf sozialem und politischem Gebiete. Die Kirche wird als „Klasseninstitut", 
als staatlich privilegierte Einrichtung zur Wahrnehmung der Interessen der Besitzenden 
und Herrschenden, als Bollwerk der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, als Volks- 
Monismus. — Sozialdemokratie. 
  
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