Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
14 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch. 
  
Hie innerkirchliche Krisie. r- vemenente urmesnhd Antirchchier 
ie verhängnisvollste einung des mo- 
Auflösung der Bekenntniskirchen. dernen Kirchentums. Wir stehen gegen- 
wärtig vor der Tatsache, daß unsere evangelischen Landeskirchen mit wenigen Ausnahmen 
faktisch aufgehört haben, Bekenntniskirchen im ursprünglichen Sinne des Wortes zu 
sein. Zwar besteht das Bekenntnis in allen diesen Kirchen verfassungsmäßig zu Recht, und 
ihre Geistlichen haben sich der Bekenntnisverpflichtung bei der Amtsübernahme zu 
unterziehen. Aber weder die Rechtsbeständigkeit der Bekenntnisse noch der Verpflich- 
tungszwang haben den Prozeß der allmählichen Erweichung der Bekenntnisverpflich- 
tung, der in einigen Kirchen rascher, in anderen langsamer sich vollzieht und bier 
und da bereits zur tatsächlichen Gleichberechtigung aller Richtungen geführt hat, 
aufhalten können. Ebensowenig haben disziplinarische Eingriffe der Kirchenregierungen 
in bekannten Fällen, deren jüngster, der Fall Jatho, bekannlich die Absetzung des 
Beklagten bewirkte, dies vermocht. Alle Gegenmaßregeln offizieller oder privater Art 
haben sich als vergeblich erwiesen. Unaufhaltsam hat sich die Entwicklung vollzogen. 
Zahllose Aktionen zum Schutze der Bekenntnisse und des Bekenntnisstandes der Kirchen 
sind unternommen. Aber trotz aller Agitation gegen den Liberalismus, aller Organi- 
sation der Bekenntnisfreunde, aller Gründungen von Konferenzen, theologischen Schu- 
len und Kursen, trotz allen kirchenpolitischen Unternehmungen, öffentlichen Protesten, 
Appellationen an der Kirchenregierung, Drohungen mit Massenaustritten aus der Kirche, 
freikirchlichen Projekten usw. ist die Auflösung der Glaubens- und Bekenntniseinheit 
beständig fortgeschritten. Der Gegensatz von Lutheranern und Reformierten ist längst 
hinter dem Kampf um die sogenannten „Grundwahrheiten des Christentums“ 
zurückgetreten. 
  
  
Im Jahre 1892 entbrannte der Streit um das Apostolikum, 
im vorigen Zahre trat er plötzlich in ein neues Stadium. 
Er hat nicht bloß die Theologie, sondern auch die Gemeinden, die Laienschaft ergriffen 
und mobil gemacht. Er greift aufs tiefste in das kirchliche Leben in seinem ganzen 
Umfange ein, tobt in den theologischen Fakultäten, in den kirchlichen Spnoden, den 
Presbyterien und Kirchenvorständen, bei den Kirchen- und Pfarrwahlen, Professoren- 
berufungen und kirchenregimentlichen Besetzungen. Die Erregung pflanzt sich fort bis in 
die kommunalen und politischen Körperschaften, die parlamentarischen Parteien und 
beeinflußt die Gesetzgebung. Die Schule mit ihren Erziehungsfragen, vor allem 
der Religionsunterricht ist in heftigste Mitleidenschaft gezogen. Die Presse 
nimmt Stellung und Partei und beeinflußt die öffentliche Meinung. Das innerste 
Leben der Kirche in Predigt und Seelsorge, Gemeindepflege und verwaltung, das 
kollegiale Verhältnis der Amtsbrüder wird durch diesen Kampf betroffen. Pastoren 
und Laien befehden sich in öffentlichen Blättern, Versammlungen, Oruckschriften. Es 
gibt nachgerade keine Frage, keine Arbeit, keine Angelegenheit in der Kirche, die nicht ent- 
scheidend durch das pro und kontra, altgläubig oder neugläubig, positiv oder liberal be- 
rührt wird. Das schlimmste ist, daß das Vertrauen zur Kirche, zur Aufrichtigkeit, Wahr- 
Apostolikumstreit. 
  
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