18 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
nach neuen Formen für die alte Wahrheit. Daß dabei die neuen wissenschaftlichen Werte
oft stärker empfunden wurden als der bleibende religiöse Gehalt der Uberlieferung,
läßt sich freilich nicht leugnen. Während die Orthodoxie bis heute die Furcht vor der
Wissenschaft und das Mißtrauen gegen sie niemals los geworden ist, überspannte jener
Liberalismus auf der anderen Seite vielfach den Begriff der Wissenschaft und
wähnte sich im Besitze einer Voraussetzungslosigkeit, die das allergrößte Mißtrauen ver-
diente. Heutzutage beginnt man sich energisch auf die Relativität und Bedingtheit aller
wissenschaftlichen Erkenntnis zu besinnen — auch eine heilsame Frucht des erneuten
Kantstudiums.
Wirkungen der wissenschaftlichen Kritik. Es ist hier noch nicht der Ort die theo-
logische Entwicklung der neuesten
Zeit zu beschreiben. Es soll nur verständlich gemacht werden, wie es zu jener Spannung
der „kirchlichen“ „positiven“ und der „unkirchlichen“, „negativen“, „modernen“, „liberalen“
Theologie gekommen ist, welche heute zu einer den Fortbestand der Volkskirche gefähr-
denden innerkirchlichen Krisis geführt hat. Der Geist der modernen Wissenschaft drang
mit allen seinen Problemstellungen in die Theologie ein und machte auch mehr und mehr
alle scheinbar feststehenden Erkenntnisse problematisch. Nirgends machte er Halt, keine
Grenzen erkannte er an. Von zwei Seiten her vollzog sich eine fortschreitende Reduk-
tion der kirchlichen Lehre. Vor allem von seiten der neuen entwicklungstheoretischen
und kritischen Geschichtsforschung. Die „historische Kritik“ warf sich auf alle Teile der
christlichen und kirchlichen Uberlieferung und gestaltete die traditionelleren Anschauungen
vollkommen um, welche in der kirchlichen Gedankenwelt als ein unveräußerlicher, ge-
beiligter Besitz galt, mit dem alles „stand und fiel“. Oie textliche, literarische, kanonge-
schichtliche, profan- und religionshistorische Kritik erzeugte ein in beständiger Wandlung
begriffenes, stets unvollendetes, aber völlig verändertes Bild der alt- und neutestament-
lichen Geschichte, der Entstehung des Urchristentums und der Kirche. Die kirchen- und
vor allem dogmengeschichtliche Forschung gewann ebenfalls ganz neue Gesichtspunkte
und Methoden für ihren Gegenstand und infolgedessen ganz neue Auffassungen vor allem
des Ursprungs und der Weiterentwicklung des kirchlichen Dogmas, der Bekenntnisse,
der Reformation und Theologie. Diese historisch-kritische Umgestaltung des kirchlichen
Uberlieferungsbildes vollzog sich keineswegs geradlinig und in regelmäßigem Fortschritt,
sondern durch starke Kurven und oft durch Extreme hindurch. Immer wieder wurde
dabei erlebt, daß die Grenzüberschreitungen der Kritik ganz von selbst auf ihr richtiges
Maß reduziert werden.
Auch gegenwärtig besteht keineswegs, ja nicht einmal
in den Hauptfragen, ein erhebliches Maß von Einigkeit
unter den Forschern. Das bisherige Ergebnis der
kritischen Bearbeitung der historischen Grundlagen des Christentums ist jedenfalls in fer-
tigen und „feststehenden“ Resultaten nicht zu fassen. Das Ergebnie ist in vielen Punkten
noch negativer Art, soll darum in negativer Form ausgesprochen werden: Die Ver-
Keine fertigen Resultate,
aber negative Ergebnisse.
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