VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Theologie. 19
balinspiration ist unwiderbringlich dahin. Die ezxklusio-supranaturalistische
Betrachtung der biblischen Geschichte ist unhaltbar geworden. Das Dogma
der alten Kirche ist keineswegs rein biblisch-religiösen Ursprungs. Oie
religiösen Grundprinzipien der Reformation sind nicht zur Durchführung
gekommen, weder in den evangelischen Kirchenbildungen, noch in den
Bekenntnisschriften, noch in der Theologie des 17. Jahrhunderts. Diese
Erkenntnisse werden immer mehr Gemeingut der Theologen, während die offizielle
Kirche sich noch immer gegen ihre öffentliche Anerkennung sträubt; sie dringen immer
mehr durch die zahlreichen Röhren des modernen Popularisierungsapparates in die
Kreise der Gebildeten ein, werden hier allerdings vielfach hinsichtlich ihrer rein religiösen
Tragweite mißverstanden. Ja auch die sogenannte „positive Theologie“, sofern sie sich
entschlossen von den alten theologischen Methoden der Orthodozie abgewandt und ihre
veraltete Apologetik aufgegeben hat, befindet sich in weitgehendem Maße im Einklang
mit diesen Anschauungen, während das Vertrauen zur Orthodozie weithin in der öffent-
lichen Meinung immer mehr erschüttert wird, je mehr und deutlicher zutage tritt, was
für Frrtümer sie im Namen des Glaubens konserviert hat und noch immer weiter
konservieren möchte. Durch diesen immer zunehmenden kritischen Prozeß, der sich
an der historischen Theologie vollzogen hat, sind alle geschichtlichen Unterlagen der
Kirchenlehre, wenigstens in ihrer alten Fassung, problematisch geworden und damit das
Dogma erschüttert. Die „Heilstatsachen“ sind zum Gegenstand der allgemeinen Skepsis
geworden, wenigstens in ihrem traditionellen Verständnis. Oazu ist die philo-
sophische, pspchologisch-erkenntniskritische und religiöse Kritik der Dogmatik gekommen,
welche weithin eine völlige Umwertung der religiösen Werte der Vergangenheit voll-
zogen hat.
Grenze zwischen Kirchlicher und Die Folgerungen, welche aus der kritischen
— Theologie. Bearbeitung der Dogmas gezogen wurden,
sind sehr verschieden. Die Grade, in denen die
moderne Theologie in ihren verschiedenen Typen von der Kirchenlehre abweicht, sind sehr
mannigfaltig, je nach der Tragweite, welche man hinsichtlich des religiösen Gehaltes des
Christentums den kritischen Ergebnissen zuschreibt. Oie Grenze zwischen den noch „Kirch-
lichen“ und den nicht mehr, Kirchlichen“ ist sehr schwer zu ziehen. Tatsache ist, das die alte
Erkenntnis- und Bekenntniseinheit in der evangelischen Kirche grundsätzlich und faktisch
aufgelöst ist, und daß die Kirche mit der Unwiderruflichkeit dieses Zustandes zu rechnen
hat. Es ist keine Frage, daß dadurch eine allgemeine Lehr- und Wahrheitsunsicherheit
herbeigeführt ist, der sich überall verwirrend und trennend geltend macht.
Folgen der innerkirchlichen Krisis. Die Folgen dieser innerkirchlichen Krisis
Lehrunsicherheit. sind allerdings für das Leben und den
Bestand der Kirche geradezu verhängnis-
voll. Auf die immer mehr unter Theologen und Laien um sich greifende Wahr-
heitsunsicherheit religiöser Skepsis ist schon hingewiesen. Manche fragen schon:
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