Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
24 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch. 
  
merkbar gemacht. Nein — das alles wäre zu ertragen. Unerträglich dagegen ist 
für das kirchliche Leben das wie es scheint unkündbare Verhältnis, das sich zwischen 
den bestimmten kirchlichen und reinpolitischen Parteien sozusagen programmäßig heraus- 
gebildet hat. Feder Deutsche weiß, daß politisch konservativ und kirchlich positio und 
politisch liberal und kirchlich liberal als unlöslich zusammengehörige Begriffe gelten, 
sozusagen als korrelate Größen, auf Gegenseitigkeit gegründet. Diese Bezeichnungen 
stammen bereits aus der Zeit der politischen Reaktion und des älteren Liberalismus und 
haben alle politischen Wandlungen der Parteien mitgemacht. Die kirchlichen Parteien 
pflegenihre politischen Kartellbrüder bei den Wahlen zu unterstützen, während diese wieder- 
um in den Parlamenten für jene eintreten. Sehr charakteristisch für dieses Verhältnis ist, 
daß bei oder nach großen politischen Wahlen häufig auch die kirchlichen Parteikämpfe 
ausbrechen. Dieses Schauspiel erlebten wir noch jüngst nach den letzten Reichstags- 
wahlen. ODaß diese offizielle Verbindung dem Evangelium und dem Geiste der Refor- 
mationskirche widerspricht, daß sie die Kirche — denn sie ist doch hier im Unterschiede 
von der mit dem Zentrum verbundenen Römischen Kirche der leidende Teil — in ein 
geradezu unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis von weltlichen Faktoren bringt, daß sie in 
den Köpfen unserer Gemeindeglieder eine heillose Verwirrung hervorruft, dafür scheint 
vielen Kirchenpolitikern völlig das Bewußtsein verloren gegangen zu sein, für so selbst- 
verständlich halten sie diesen Zustand. Za gerade diejenigen, die am lautesten nach Tren- 
nung von Staat und Kirche rufen, kultivieren am meisten dieses Verhältnis von Staat 
und Kirche, dem gegenüber jenes andere wahrlich harmlos zu nennen ist. Es ist selbst- 
verständlich, daß der evangelische Pastor sich von niemandem an Patriotismus und 
nationaler Gesinnung übertreffen, ebenso daß er sich von niemandem das Recht 
seiner politischen Uberzeugung verkümmern lassen darf. Daß er aber in den Augen 
seiner Gemeindeglieder mit seiner religiös-kirchlichen Stellung zugleich seinen politischen 
Stempel erhält, ist ein unwürdiger Zustand, an dessen Beseitigung alle vernünftigen 
Leute arbeiten sollten. Die Liberalen aber haben nicht das Recht, den Konservativen 
in diesem Punkte Vorwürfe zu machen. 
Hie beiden Seiten des Damit haben wir die beiden Erscheinungen, welche das 
moderne Kirchenproblem geschaffen haben, die „allge- 
meine UAUnkirchlichkeit" und die „innerkirchliche 
Krisis“. Beide haben gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht und dadurch das Problem 
aufs höchste verschärft. Betrachten wir sie in ihrem gegenwärtigen BVerhältnis, so kann 
ihr Zusammenhang nicht verborgen bleiben. In denselben Faktoren des neuzeit- 
lichen Geisteslebens, welche im allgemeinen entkirchlichend gewirkt haben, ist auch der 
Grund für die allmähliche Auflösung der kirchlichen Bekenntniseinheit zu suchen. Um- 
gekehrt wird durch die innerkirchliche Krisis die Unkirchlichkeit beständig vergrößert. In 
dieser Wechselwirkung gewinnt die verhängnisvolle Situation der evangelischen Kirche 
ihren deutlichen Ausdruck. 
  
Kirchenproblems. 
  
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