30 Die evangelische Kirche und Theologie. VIII. Buch.
mentes besteht darin, daß die literarkritische Betrachtungsweise, mit der jene in erster Linie
arbeitet, zur „religionsgeschichtlichen“ erweitert worden und als solche auf das ganze
Gebiet der Theologie bis in die neueste Kirchengeschichte ausgedehnt worden ist. Der
Offenbarungspositivismus, an dem noch Ritschl und seine Schüler mit Energie fest-
bielten, wird hier als das größte Hindernis des historischen Verständnisses des CThristen-
tums und der Kirche völlig beseitigt, die Schlagbäume zwischen der biblischen und der
allgemeinen Religions- und Kulturgeschichte abgebrochen. Das Christentum in allen
Stadien, seine neutestamentliche und kirchengeschichtliche Entwicklung wird zu einem
Ergebnis des allgemeinen religionsgeschichtlichen Prozesses. Sein besonderer Offen---
barungs- und Absolutheitsanspruch fällt dahin. Die heilsgeschichtliche und supranatura-
listische Betrachtungsweise wird grundsätzlich abgelehnt. Das Christentum ist wie alle
anderen Religionen als eine rein historische Größe zu erforschen nach den allgemeinen
Regeln der bistorischen Methode, den Gesetzen der Analogie, Correlation und Relativität.
Dabei sind der Immanenzgedanke und die Entwicklungstheorie maßgebend.
Es kann kein Zweifel sein, daß diese
Forschungsweise einen gewaltigen
Fortschritt für die wissenschaftliche Erkenntnis des Thristentums bedeutet. Sie hat sich
bereits als außerordentlich fruchtbar erwiesen, zu einer umfassenden Revision aller bis-
berigen, zum großen Teil vermeintlichen Ergebnisse der historischen Erforschung des Christen-
tums geführt, die Relativität aller geschichtlichen Erkenntnisse gezeigt, zahllose Irrtümer
berichtigt, neue Zusammenhänge aufgedeckt, die umfassende Wechselwirkung, in der das
Christentum mit der Umgebungswelt gestanden hat und steht, immer deutlicher nach-
gewiesen, die Herrschaft des Entwicklungsgedankens auch für seine Geschichte erwiesen
und die gewaltige allgemeingeschichtliche, geistige und kulturelle Bedeutung der christ-
lichen Religion ans Licht gestellt. Dabei ist der unerschöpfliche Reichtum ihrer Beziehungen
zu der allgemeinen Religions- und Geistesgeschichte aller Zeiten zum Bewußtsein
gekommen. Es ist dieser Forschung mit einem Wort zu verdanken, daß das Christentum
wie nie zuvor im Lichte der Geschichte steht.
Es ist weiter unbezweifelbar, daß diese Resultate weder von der älteren literarkri-
tischen noch der irgendwie kirchlich bestimmten historischen Theologie erreicht worden
sind und erreicht werden können. Denn sie beruhen in der Tat in dem grundsätzlichen
Absehen von jeder das Christentum irgendwie isolierenden Betrachtungsweise. Das
gute Recht dieser Forschungsart ist damit eewiesen. Ni#emals wird sie als solche rück-
gängig zu machen sein. Kein einsichtiger Theologe, mag er auf einer kirchlichen Seite
stehen, auf welcher er will, wird das wünschen oder fordern können.
Errungenschaften der neuen Methode.
Stellungnahme der Auch der kirchlichste Theologe muß ja, wenn er wirk-
eNirchlichen Theologie. lich Vertrauen zu der sich selbst bezeugenden und unzer-
störbaren Macht der göttlichen Offenbarung in Christo
hat, geradezu fordern, daß die rein historische Methode sich ungehindert und unbeschränkt
an dem geschichtlichen Christentum versuche. Er kann ja unmöglich wünschen, daß die
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