Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VIII. Buch. Die evangelische Kirche und Thecologie. 33 
der moderne Kulturgedanke mit seiner Diesseitigkeitsstimmung, seinem Immanenz- und 
Relativitätsprinzip in stärkerer Weise als bisher jede liberale Auffassung wesentliche Inhalte 
des Christentums absorbiert und die Kirche aus der ihr durch die Reformation gewiesenen 
Bahn herauszudrängen bestrebt ist. #uch solche kirchliche Theologen, welche der wissen- 
schaftlichen Arbeit in der Theologie den weitesten Spielraum gewähren wollen, empfin- 
den vieles an diesem „Neuprotestantismus“ als „.unkirchlich“ und sehen in ihm eine 
schwere Gefahr für die evangelische Kirche. Und in der Tat: hier handelt es sich vielfach 
nicht mehr um verschiedene Auffassungen der reformatorischen Bekenntnisse, sondern 
um ihre grundsätzliche Ablehnung als auf mittelalterlichen Fragestellungen beruhende 
Zeugnisse einer überwundenen Zeit. · 
Darum ist es verständlich, daß die kirchliche Theologie der Gegenwart die Über- 
windung des Neuprotestantismus als ihre Aufgabe betrachtet. Den verkehr- 
testen Weg zu diesem Ziel würde sie freilich einschlagen, wollte sie die in ihm wirksame 
wissenschaftliche Kraft verleugnen und ihrerseits von neuem die reaktionäre Bahn be- 
schreiten. Es fehlt unter den kirchlichen Theologen nicht an solchen, die sich zu solchem 
Werke anschicken. Noch törichter freilich ist das Beginnen derer, die mit kirchenpolitischen 
Machtmitteln, etwa durch Beschränkung der theologischen Lehrfreiheit oder gar durch 
bisziplinarische Maßregeln dem Vordringen dieser Theologie Halt gebieten zu können 
und zu dürfen glauben. Sofern ihnen das nicht ihr eigenes Gewissen verbietet, sollten 
sie wenigstens von der Geschichte lernen, wohin solche Wege führen und wohin nicht. 
Es gibt nur einen ethisch-wissenschaftlich und evangelisch richtigen Weg zur Über- 
windung der der Kirche von der fortgeschrittensten Theologie drohenden Gefahr. Diesen, 
daß die kirchliche Theologie selbst den Beweis des Geistes und der Kraft erbringt. 
Das wird sie nur können, wenn sie den wissenschaftlichen Geist, der in jener Bewe- 
gung waltet, rückhaltlos anerkennt und sich ihm in voller Ehrlichkeit und mit ganzem 
Herzen hbingibt. Das andere Erfordernis aber ist, daß sie die religiöse und sittliche 
Lebendigkeit und Energie aufbringt, um in der Spannung zwischen dem alten Glauben 
und dem neuen MWissen die reformatorische Position in der Ursprünglichkeit eigenen 
Erlebens festzuhalten und theologisch zu behaupten. 
Oie Arbeit der modernen An dieser Aufgabe arbeitet gegenwärtig eine große 
kürchlichen Theologie. Schar jüngerer moderner kirchlich gerichteter 
— Theologen mit frischem Mute und bisher unge- 
brochener Kraft, und dieser Arbeit sollte die Kirche Vertrauen schenken, mehr Vertrauen 
schenken, als sie tat. Diese Theologen kommen aus verschiedenen Lagern der „Posi- 
tiven“ älterer Observanz, vor allem auch von der Erlanger Schule, einige von der 
Kitschlschen Rechten. Einer ihrer ersten und wirksamsten Repräsentanten ist Reinhold 
Seeberg. Die Ausgangspunkte, Wege und Methoden sind bei den einzelnen sehr 
verschieden, und die anfängliche Gefahr einseitiger Schulbildungen hat sich sebr bald ver- 
zogen. Fast alle suchen sie neue und selbständige Wege und marschieren getrennt, oft sehr 
getrennt. Aber der Grundcharakter ihrer Theologie ist darin ein gemeinsamer, daß 
sie alle die Synthese suchen, die die evangelische Kirche braucht, um sich in dem Geistesleben 
  
  
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