42 Die evangelische Kirche und Theologie. VIII. Buch.
Keine grundsätzliche Trotz alledem kann man nicht sagen, daß sich die neue
Kirchenfeindschaft. Frömmicgkeit, die im Werden begriffen ist, durchweg grund-
sätzlich gegen die Kirche ablehnend verhielte. Im Gegen-
teil macht sich in letzter Zeit vielfach das Bedürfnie nach einer neuen Kirchlichkeit geltend,
und Ansätze zu ihr sind vorhanden, deren verständnisvolle Pflege und Weiterbildung
die Hauptaufgabe der kirchlichen Gegenwart ist. Es scheint bisweilen, als habe die
früher geschilderte moderne Unkirchlichkeit in bestimmten Kreisen ihren Höhepunkt nicht
bloß erreicht, sondern auch schon überschritten. Allerdings wird man sich schon jetzt
nicht verhehlen können und dürfen, daß die neue Kirchlichkeit, die wir kommen sehen,
ein anderes Gepräge tragen wird als die der hinter uns liegenden Zeit. Die moderne
Frömmigkeit wird im großen und ganzen die Beteiligung am Kultus der Kirche nicht
mehr in erster Linie als religiöse Pflicht empfinden. Ererbte Sitte und Gewohn-
heit wirken freilich auch noch in manchen von der neuzeitlichen Lebenswendung
unberührter gebliebenen Gegenden nach und werden hoffentlich noch lange nachwir-
ken. Dort jedoch, wo gegenwärtig spontan eine neue Kirchlichkeit entsteht, vor
allem in unseren Großstädten, trägt sie einen stark persönlichen, bewußten, tem-
peramentvollen Charakter. Sie bildet sich überall da, wo eine Predigtweise sich
energisch zur Geltung bringt, die sich ganz neue aus der Gegenwart entstandene Auf-
gaben stellt und dem modernen Menschen das alte Evangelium in neuer Weise nahe-
zubringen sucht.
Hie großen Arbeits- * knruen anssera Sie * W9
en und umfassenden Krisen in ihrem Schoße no
gemeinschaften in der Kirche. ungebrochene Lebenskraft der evangelischen Kirche
liegen auf einem Gebiete, wo dieselbe in letzter Zeit mit immer größerer Entschlossenheit
die Wendung zum modernen Leben vollzogen hat, auf dem Gebiete der genossen-
schaftlichen Organisation ihres Arbeitslebens. In den großen Arbeitsgemein-
schaften der ADußeren und Inneren Mission, des Gustav-Adolf-Vereins und
Evangelischen Bundes, der evangelisch- und kirchlich-so zialen Bestrebungen,
der Gemeindearbeit und Frauenhilfe ist eine staunenswerte kirchliche Energie
entfaltet, eine Aktivität, die für die Zukunft noch weit Größeres verspricht als für die
Gegenwart. Hier liegen wirklich gewaltige Fortschritte, und auf ihnen beruht die
Hoffnung der Kirche. Denn die Arbeit, die hier gemeinsam getan ist und weiter getan
wird, hat die Kraft besessen, über die Znteressen der Einzelgemeinden, ja der ein-
zelnen offiziellen Kirchengebiete und Kirchenkörper hinaus zahllose evangelische Christen
zusammenzufassen und zu verbinden; sie hat sich bis jetzt den Gegensätzen im Innern
gewachsen gezeigt und im Sinne des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen eine
Fülle von Laienkraft für die Reichsgottesarbeit mobil gemacht. Mitten unter den Er-
schütterungen, denen unsere Landeskirchen ausgesetzt waren, hat hier das volkskirchliche
Bewußtsein der evangelischen Kirche eine neue Heimat und neue Ziele gefunden. Hier,
wo die großen Aufgaben und Notwendigkeiten des Reiches Gottes zur Arbeit drängen,
entfaltet das Evangelium seine zentripetale Kraft. Und darin vollzieht sich eine
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