Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
VII. Buch. Eisenbahnen, Straßen- und Luftverkehr, Post und Telegraph. 13 
  
heiten zeigte sich, daß dem ursprünglichen Enthusiasmus, mit dem die Offentlichkeit die 
Elektrisierungsfrage ausgenommen hatte, an vielen Stellen ein gewisser Skeptizismus 
gefolgt ist, der allerdings weniger durch praktische Mißerfolge als dadurch veranlaßt war, 
daß die Hoffnungen, die man auf einen raschen Siegeslauf der elektrischen Vollbahn- 
lokomotive gesetzt hatte, sich doch langsamer zu erfüllen scheinen, als man erwartet hatte. 
Die Wissenschaft verspricht sich von dem elektrischen Bahnbetrieb große wirtschaft- 
liche Erfolge. Die zentralisierte Erzeugung elektrischer Energie in einer ortsfesten Ma- 
schinenanlage ist, auch wo keine Wasserkräfte zur Verfügung stehen, der Dampferzeugung 
im Lokomotiokessel wirtschaftlich überlegen. Die elektrische Lokomotive braucht keinen 
Kessel, kein Brennmaterial und Speisewasser mitzuführen, sie ist jeden Augenblick be- 
triebsbereit. Ihre Bedienung und Unterhaltung ist einfacher, die Bedienung mehrerer 
elektrischer Lokomotiven im gleichen Zug kann von einem Punkt aus geschehen, die 
Nauchplage des Dampfbetriebes entfällt. 
Aber bei der Uberführung des Problems der elektrischen Zugsbewegung in die 
Wirklichkeit haben sich, wie bereits angedeutet wurde, technische und wirtschaftliche Schwie- 
rigkeiten ergeben, die zurzeit noch nicht voll überwunden sind. Die Dampflokomotive 
blickt auf eine 100jährige Entwicklung zurück, die elektrische Lokomotive für einphasigen 
Wechselstrom, der die für den Fernbahnbetrieb geeignetste Form der Energieübertragung 
zuläßt, ist noch nicht 10 Zahre alt. Wenn man jedoch die überwältigende Entwicklung 
betrachtet, die die moderne Technik in allen ihren Zweigen genommen hat, wird man 
zuversichtlich erwarten dürfen, daß es in nicht ferner Zeit gelingen wird, die elektrische 
Lokomotive als ebenbürtige Zugkraft in den Vollbahnbetrieb einzuführen. 
Heute schon hat die elektrische Zugkraft die Dampfkraft verdrängt, wo es sich um 
reine Tunnel- und Untergrundbahnbetriebe handelt, vor allem aber im großstädtischen 
Schnellbahnbetrieb, bei dem eine große Zahl von Zügen in dichtester Folge zu befördern 
und wegen der zahlreichen Haltstationen Anfahrbeschleunigungen notwendig sind, wie 
sie die Dampflokomotive auch bei außergewöhnlich starken Abmessungen nicht zu bieten 
vermag. Auch da, wo billige Wasserkräfte zur Verfügung stehen, hohe Kohlenpreise zu 
bezahlen und ungünstige Steigungsverhältnisse zu überwinden sind, wird wohl heute 
schon der elektrische Betrieb dem Dampfbetrieb wirtschaftlich überlegen sein. Immer 
aber setzt er wegen der hohen festen Kosten, die er erfordert, einen bestimmten Grad von 
Betriebsintensität voraus. Der elektrische Betrieb ist seinem Wesen nach die wirtschaftlich 
und technisch geeignetste Betriebsform für die höheren Intensitätsstufen des Eisenbahn- 
verkehrs. Für Bahnen mit wenig dichtem und wenig gleichmäßig verteiltem Verkehr 
wird er mit gleichem Erfolge nicht verwendet werden können. Ob endlich die militärischen 
Bedenken gegen die ausschließliche Anwendung des elektrischen Betriebes auf den großen 
Fernbahnen sich völlig werden beseitigen lassen, mag hier dahingestellt bleiben. 
Voraussichtlich wird der Ausgang des Kampfes zwischen den beiden Energiearten um 
die Herrschaft im Eisenbahnbetrieb nicht der sein, daß die alte Technik von der neuen völlig 
verdrängt wird. Es wird vielmehr auch hier wie so häufig in unserem vielgestaltigen Wirt- 
schaftsleben eine Arbeitsteilung eintreten, bei der für jede der beiden Betriebsformen ein 
Anwendungsgebiet bleibt, das ihr von der anderen nicht mehr streitig gemacht werden kann. 
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