IX. Buch. ODie Universitäten. · 11
#
Die Universitätsstadt.
Aachteiliger Zug zur Großstadt. Es ift ein Zeichen unserer Zeit, daß die Be-
völkerung ihren Weg nach der Großstadt
nimmt und die Arbeit wie die Freuden des Landes niedriger als die der Stadt ein-
schätzt. Glanz und Schönheit der Hauptstädte dürfen nicht darüber täuschen, daß sie
die Kraft des Landes an sich ziehen, um sie zu verbrauchen, und trotz ihrer Bedeutung
am Mark des Landes zehren. In ihnen wächst nach den Worten eines geistreichen National--
ökonomen ein Geschlecht von Menschen heran, „das sein Leben ohne rechte Fühlung
mit der lebendigen Natur verbringt, das die Sonne nicht mehr grüßt, das nicht mehr
in den Sternenhimmel bineinträumt, das nicht mehr die Stimmen der Singvögel kennt
und nicht die weiße Winternacht, wenn der Vollmond auf den Schneefeldern glitzert —
ein künstliches Geschlecht.“ In der Großstadt wird der einzelne zur Massenerscheinung,
die Umgebung wirkt auf die zarte Pflanze der jugendlichen Seele, die dem starken Ein-
druck der Umwelt erliegt und schließlich fremdes Licht reflektiert, statt eignes zu ent-
wickeln. Die eigene Perfönlichkeit vermag unter der Massenwirkung sich schwer zu ent-
falten, dazu gehört Freiheit und geistige Nuhe. Wenn die große Stadt dem, der ihr
wieder entfliehen kann, unendliche Schätze der Anregung bietet, so nimmt sie leicht dem
ständigen Bewohner, namentlich der Zugend die der Innenwelt. Nach der Überzeugung
ernster und durch äußerlichen Glanz nicht beeinflußter Männer, wie des Freiherrn von
Pechmann, gehört es zu den wichtigsten Aufgaben der Staatsweisheit, dem Zug in die
ganz großen Städte, je wuchtiger er sich geltend macht, nicht widerstandslos zu folgen,
sondern, wo es nur angeht, durch zielbewußte Dezentralisation nach Kräften entgegen-
zuwirken.
Dieser Zug in die Großstadt prägt sich zum Teil auch im akademischen Leben
aus. Die Universitäten innerhalb der größten Städte zeigen, wenn nicht geographische
Gründe entgegenwirken, die größte Anziehungskraft. In Preußen wie im Reich steht
Berlin, danach München und Leipzig obenan. Die beabsichtigte Gründung der Uni-
versität Frankfurt hat Gelegenheit gegeben, sich zu vergegenwärtigen, ob Großstadt
oder Kleinstadt den Vorzug als Sitz der Universität verdient. Niemand wird verkennen,
mit welchem Eifer auch an den Universitäten der großen Städte gearbeitet wird, daß
eine Fülle von Anregungen in sozialer, merkantiler Hinsicht, auf allen Gebieten des
Lebens in die akademische Zugend überströmt, auf die einzelne Schäden der Großstadt
weniger wirken, weil sie freier, unabhängiger und auch wanderlustiger ist; aber was
besagt das alles gegenüber der poesie- und reizumsponnenen lleinen Universitätsstadt,
die mit ihrem Zauber bis ins Aler fortleuchtet und den schönsten Begriff des Civis acade-
micus geschaffen hat. Welche Fülle inneren, gesunden Fühlens und Denkens reift hier,
an dem kleineren Ort, in den jungen Geistern heran, fern ab von der Menge sich jagender
und bisweilen verführerischer Eindrücke der Großstadt. Die Nähe von Wald und Flur
ermöglicht die leichte Erreichbarkeit der Spiel- und Turnplätze; die nahe Berührung
zwischen Dozenten und Studenten wirkt oft tiefer und nachhaltiger als Hörsaal und
1061