Das höhere Schulwesen
Von Dr. Paul Cauer, Geh. Reg.-Rat und Aniversitätsprofessor in Münster
Schule und Staat. Daß Erziehungskunst ein Teil der Staatskunst sei, galt den
Alten als selbstverständlich; bei uns ist erst während des
Menschenalters, das auf den großen Krieg folgte, dieser Zusammenhang wieder zu
rechter Geltung gekommen. Die Einigung des deutschen Volkes, die Neugründung
des Reiches stellte auch dem Bildungswesen neue Aufgaben. Mit voller Entschieden-
heit vertrat Kaiser Wilhelm II. von vornherein den Gedanken, auf die JZugend in
Zucht und Lehre so zu wirken, daß sie, erwachsen, dereinst möglichst volllommen
imstande wäre die Pflichten gegen das Vaterland und den Staat zu erfüllen. Alle ein-
greifenden Anderungen, die wir erlebt haben, sind im Grunde auf dieses Ziel gerichtet.
Um den Weg dahin einzuschlagen, mußten herkömmliche Anschauungen durchbrochen,
überlieferte Bildungsideale, die den Bedürfnissen der Zeit nicht mehr entsprachen, ge-
stürzt werden. An Ansätzen dazu, an kühnen Forderungen und Entwürfen fehlte es auch
vorher nicht; aber nun galt es, das, was einzelne gedacht hatten, in die Wirklichkeit zu
übertragen. Dadurch, daß hierbei der Staat die Führung übernahm, fiel ihm, im Kampfe
gegen Tradition und Vorurteil, die Rolle eines Befreiers zu. Und doch konnte er ver-
altete Formen kaum anders überwinden, als indem er neue schuf, in die sich von jetzt
an das fortschreitende Leben einzufügen hätte. So ergab sich in der Schulpolitik dieser
Zeit ein eigentümliches Zusammenwirken lösender und bindender Kräfte, eine Mischung,
die auf beiden Gebieten, dem der männlichen wie der weiblichen Erziehung, in ver-
schiedenen Gestalten, aber gleich merkbar und merkwürdig hervortritt.
HLie höheren Knabenschulen vor 189090. I. Ursprünglich war das schön und erhaben
gedacht: es gebe eine einzige Art höherer
Geistesbildung, die aus dem Studium der Griechen und Römer zu schöpfen sei, und sie
müsse und könne alle Stände und Berufskreise einigend umfassen. Dieser Glaube
war seit den Zeiten Wilhelms von Humboldt herrschend geblieben. Unauphaltsam frei-
lich wuchs, in einer immer reicher sich entwickelnden Kultur, die Mannigfaltigkeit der
geistigen Kräfte, die an dem tätigen Leben der Nation Anteil hatten und deshalb mit
gutem Recht einen Anteil auch an der Bildung des heranwachsenden Geschlechtes ver-
langten. Aber immer wieder wurde versucht, und immer wieder schien es zu gelingen,
die Auswahl dessen, was auf der Schule zu lernen wäre, so zu treffen, daß von dem Alten
nichts Wertvolles aufgegeben und kein wertvolles Neue vernachlässigt würde. Dies war
1084