Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
50 Das höhere Schulwesen. IX. Buch. 
  
haben sich an Oberrealschulen wie Nealgymnasien eingebürgert und geben den Zöglingen 
Gelegenheit, an der Arbeit des Suchens und Untersuchens selber teilzunehmen. Der 
Geschichte ist die Pflicht erwachsen, zu staatsbürgerlicher Gesinnung zu erziehen. Ins 
Innere dringen und die Seele erfassen wollen auch De#utsch und Religion; aber je feiner 
ein geistiger Stoff ist und je keuscher verborgen die Kräfte liegen, die er wecken und nähren 
soll, desto weniger verträgt er es, in Formeln gefaßt und nach Regeln verarbeitet zu 
werden. Von Jahr zu Jahr wächst vor unsern Augen die Fülle des Wissenswerten, den 
Geist Bildenden. Unmöglich, jede neu aufblühende Wissenschaft überall in den Stun- 
denplan aufzunehmen; immer mehr bliebe dann die Schule eine Lernschule, während 
sie eine „#rbeitsschule“ sein oder werden soll. In weiser Selbstbeschränkung muß eine 
jede versuchen, anstatt eines äußeren Bielerlei innere Bielseitigkeit zu pflegen und die 
Hauptgebiete, in denen gerade ihre Stärke beruht, nach immer neuen Gesichtspunkten, 
wie das Denken der Menschheit fortschreitet, zu durchdringen. Unendlich ist diese For- 
derung und ewig neuz; für sie gibt es keine amtlichen Lehrpläne. Nur der lebendige Sinn 
freischaffender Persönlichkeit vermag das große Werk wirksam zu fördern. 
Ein Unterrichtsspstem kann nur dann heilsam und gut 
sein, wenn es einen wichtigen Platz der Aufgabe ein- 
räumt, die Auslese und das Wachstum der Besten zu fördern: das gilt wie für die 
Schule den Knaben und Zünglingen, so für die Verwaltung den Männern gegenüber. 
Die schnelle Zunahme der Zahlen, mit denen beide zu rechnen haben, an sich eine 
so erfreuliche Erscheinung, brachte doch die Gefahr eines Verlustes an Einzelwerten. 
Ein weites Gebiet der Tätigkeit ist in einheitlicher Organisation umfaßt, der 
Gebrauch der Methoden, der Lehrmittel wird von der Zentralstelle aus geregelt; 
eine gemeinsame Dienstanweisung ordnet (seit 1910) in allen preußischen Provinzen 
gleichmäßig das Zusammenarbeiten von Direktor und Lehrern; die Beziehungen der 
Schule, ja ihrer einzelnen Klassen zu den Erfordernissen der verschiedenen Berufsarten 
sind genau erwogen und in sorgfältiger Abstufung festgelegt. Das alles mußte wohl 
so geschehen, wenn ernst gemacht wurde, im Hinblick auf den Dienst der Gesamtheit 
die Zugend zu erziehen. Nun kommt es darauf an, im gleichmäßigen Betriebe die 
Mannigfaltigkeit, in der Ordnung die Freiheit, innerhalb des festen Gefüges der Einrich- 
tungen das lebendige Wirken der Menschen wieder mehr zur Geltung zu bringen. Nicht 
so, wie man es wohl versucht hat, daß um individueller Wünsche willen die Ordnung 
durchbrochen wird; wir bedürfen ihrer, und wir bedürfen zur Erziehung des Prinzips der 
Autorität. Die Stelle, wo es mit dem der Freiheit vermählt werden kann, ist die ver- 
antwortliche Tätigkeit des einzelnen tüchtigen Mannes. Ohne der Staatefürsorge 
Abbruch zu tun, doch die Selbstverantwortung steigern: wenn das gelingen könnte! 
Eine große, weitverzweigte Aufgabe; wie wichtig sie ist, das hat gerade die Entwicklung 
des Zeitraumes, der hier überblickt wurde, deutlich gemacht. Und darin liegt die vorwärts 
drängende Kraft dieser Entwicklung. Wie in der Wissenschaft die Entdeckungen den größten 
Wert haben, die dem Forscher neue Probleme stellen, so sind im Bereiche des Handelns 
diejenigen Taten und Erfolge die fruchtbarsten, aus denen neue Aufgaben erwachsen. 
Kommende Aufgaben. 
  
  
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