Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Volkeschulen. 53 
mußte, weil die finanziellen Kräfte des preußischen Staates nicht ausreichten, auch seine 
Bedürfnisse zu befriedigen. 
Betrachten wir nun im einzelnen die gewaltigen Fortschritte, die das Volksschulwesen 
im letzten Bierteljahrhundert in Preußen und in Deutschland gemacht hat. Den sozialen 
Zug der Entwicklung werden wir zuerst nachweisen in der Fürsorge des Staates für 
die Volksschule auf geistigem, gesundheitlichem, wirtschaftlichem und recht- 
lichem Gebiete, sodann werden wir ausführen, was in dieser Zeit für den Volks- 
schullehrerstand zur Förderung seiner Bildung, seiner amtlichen, gesellschaft- 
lichen und gehaltlichen Stellung geschehen ist. Daran soll sich ein Rückblick auf die 
Entwicklung des Mittelschulwesens und des Fortbildungsschulwesens, inso- 
weit es eine Fortsetzung der allgemeinen Volksschulbildung darstellt, schließen. 
Schulpflicht. Die allgemeine Volksbildung beruht darauf, daß allen Kindern 
Gelegenheit zur Erwerbung einer solchen Bildung gegeben ist, und 
daß die Bevölkerung diese Gelegenheit benutzt. In letzterer Beziehung war früher 
die Ausübung staatlichen Zwanges unentbehrlich. Als aber Friedrich Wilhelm l. vor 
200 Jahren den Schulzwang in Preußen einführte, da tat er es doch nur für die 
Orte, in denen Schulen vorhanden waren. Ist auch diese Beschränkung längst über- 
wunden, so ist doch die Gelegenheit zur Beschulung gerade im letzten Vierteljahrhundert 
außerordentlich vermehrt und verbreitet worden. Die Zahl der Schulen und der Lehrer 
hat sich verdichtet im Berhältnis zum Flächenraum und zur Einwohnerzahl. Oie 
größere Dichtigkeit bringt kürzere Schulwege mit sich, was in der Stadt sicherlich von 
Vorteil ist und auf dem Lande ebenfalls, wenn es sich um gar zu lange Schulwege 
handelt, deren Zurücklegung weder der Gesundheit, noch der Schularbeit förderlich 
ist. Die Zahl der Analphabeten hat sich ständig vermindert und ist im Verschwinden 
begriffen. Der Schulzwang muß gegenüber unvernünftigen und selbstsüchtigen Eltern 
aufrecht erhalten werden. Er ist auch nötig in den sprachlich gemischten Landesteilen, 
um die Vorherrschaft der deutschen Sprache zu sichern. 1901 und 1906/07 kam es zu 
schweren Auflehnungen gegen den Schulzwang in der Form der Anwendung der deutschen 
Sprache im Religionsunterricht in der Provinz Posen (Schulstreil). Trotz mehrerer 
provinzieller Schulpflichtgesetze, die unter Kaiser Wilhelm ll. erlassen sind, fehlt es in 
Preußen noch immer an dem wünschenswerten, für die ganze Monarchie einheitlichen 
Rechte auf diesem Gebiet, wie auch auf dem der Schulversäumnisstrafen. Aber es ver- 
dient doch hervorgehoben zu werden, daß die Bevölkerung dank den günstigeren Bedin- 
gungen, die die Volksschule gewährt, die Schulpflicht freudiger erfüllt, als früher. Es 
gibt ganze Provinzen, in denen polizeiliche Mitwirkung bei der Aufstellung der Schüler- 
zugangslisten entbehrlich ist. Die Schulpflicht ist, dem Zuge der Zeit folgend, unter 
Eingreifen in die elterlichen Rechte, ausgedehnt worden auf die blinden und taubstummen 
Kinder (1911). Und die Hauptsache ist, daß die Kosten der Beschulung dieser Kinder un- 
vermögenden Eltern abgenommen und den Kommunalverbänden bzw. den Ortsarmen- 
verbänden auferlegt sind. Auch scheint die Zeit nicht mehr fern zu sein, daß die Schulpflicht 
der schwachsinnigen Kinder, welche jetzt in ordentliche Bolksschulen eingeschult werden, 
  
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