Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. " Volksschulen. 55 
  
nahmen getroffen, um soweit als tunlich statt der Kriminalstrafen Erziehungsmaß- 
regeln eintreten zu lassen. 
Konfessionelle Rücksicht. Beider OHurchführung der Schulpflicht istauf diekon- 
fessionellen Anschauungen der Bevölkerung 
Rücksicht zu nehmen. Bis zur Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. fehlte es an all- 
gemeinen gesetzlichen Bestimmungen hierüber, so viel auch im Verordnungswege ge- 
schehen war, um dem Grundzuge des preußischen Volksschulwesens, daß der Religions- 
unterricht ein Pflichtfach der Volksschule ist und darüber hinaus der gesamte Unterricht 
von religiösem Geiste erfüllt sein soll, gerecht zu werden. Im Hohengollernhause 
berrscht neben dem freudigen Bekenntnis zum evangelischen Glauben der Grundsatz 
religiöser Toleranz. Während aber zu der Zeit des Großen Kurfürsten noch die Schul- 
ordnungen enthalten waren in den für die verschiedenen Konfessionen der Reformierten 
(1662) und Lutherischen (1687) erlossenen Kirchenordnungen, auch Friedrich der Große 
sich noch veranlaßt sah, neben dem für die ganze Monarchie geltenden Generallandschul- 
reglement von 1763 ein besonderes Schulreglement für die römisch-katholischen Unter- 
tanen in Schlesien und der Grafschaft Glatz 1765 herauszugeben, ist seit dem Allgemeinen 
Landrecht — wieder abgesehen von Schlesien (1801) — die Regelung des Wolkeschul- 
wesens interkonfessionell geworden. Der Volksschule war zwar im großen und ganzen 
der konfessionelle Charakter erhalten geblieben, aber es hatte sich doch eine immer größere 
Anzahl von Städten und unter tätiger Mitwirkung der NRegierung, da, wo die Bildung 
leistungsfähiger Schulverbände anders nicht zu erreichen war oder eine wesentliche Ver- 
besserung des Schulwesens damit verbunden war, Simultanschulen gebildet, in denen 
Kinder verschiedener Konfession gemeinsam von einem Lehrer, der in der Regel der 
Konfession der Mehrheit der Kinder angehörte, oder von einem konfessionell gemischten 
Lehrerkollegium unterrichtet wurden. Diese Einrichtung erfuhr grundsätzlichen Wider- 
spruch von katholischer Seite, zumal die Entscheidung nicht nach gesetzlichen Normen, 
sondern meist nach dem freien Ermessen der Behörden getroffen wurde. Als der Kultus- 
minister Graf Zedlitz in seinem Unterrichtsgesetzentwurfe von 1891/92 die Errichtung 
neuer Simultanschulen verhindern und das Volksschulwesen ausschließlich auf dem Boden 
der Konfessionalität aufbauen wollte, erfuhr er im Abgeordnetenhause bei den allerdings 
in der Minderheit befindlichen Mittelparteien scharfen Widerspruch. Im ganzen Lande 
entstand eine große Aufregung. Da eine Verständigung nicht zu erreichen war, verzichtete 
die Staatsregierung nach vorheriger Erörterung im Kronrate und nachdem der Minister 
seine Entlassung eingereicht hatte, auf die Fortsetzung der Beratung dieses Volksschul- 
gesetzentwurfs. In weiten Kreisen des Volkes hat man dem Kaiser damals für die schwere 
innere Kämpfe verhindernde Haltung der Staatsregierung Dank gezollt. Die kon- 
fessionellen Fragen mußten bei der Beratung des Volksschulunterhaltungsgesetzes (1906) 
wieder auftauchen und hier ist es der Mäßigung der Parteien geglückt, Formeln zu finden, 
die sowohl den Vertretern der konfessionellen Schule, wie denen der Simultanschule 
annehmbar waren. Das Gesetz beruht auf der GEleichberechtigung beider Schuleinrich- 
tungen. Es vermeidet die Ausdrücke: „Konfessionsschule“ und „Simultanschule“; es 
  
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