Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
IX. Buch. Volksschulen. 63 
  
sind in dieser Zeit gewaltig gewachsen, von 116 Millionen (1886) auf 483 (1911), davon 
für persönliche Kosten von 88 (1886) auf 338 (1911). Die laufenden Schulunterhaltungs- 
kosten haben in den 25 Jahren um 320 % zugenommen, die Schülerzahl nur um 56 9%, 
so daß der auf einen Schüler entfallende Betrag bedeutend höher geworden ist, von 
20,69 M. im ZLahre 1886 auf 64,04 M. im Jahre 1911 gestiegen ist. Bei aller gewal- 
tiger Steigerung der Volksschullasten hat die preußische Unterrichtsverwaltung es doch 
verstanden, die minder Leistungsfähigen zu entlasten und zu schonen. Den Familien- 
vätern ist im ersten Zahre der Regierung Kaiser Wilhelms II. das Volksschulgeld abge- 
nommen worden, und im Anschluß daran ein ganzes System von Entlastungen für die 
leistungsunfähigen Schulverbände geschaffen worden, auf doppelte Weise: einmal durch 
Ubertragung eines Teiles der Schullast von der Einzelgemeinde auf breitere Schultern, 
sodann durch Gewährung von Staatszuschüssen in der Form gesetzlich normierter Staats- 
beiträge und in der Form von Ergänzungszuschüssen, die nach dem Ermessen der Staats- 
und der Selbstverwaltungsbehörden verteilt werden. 
Aufhebung des Die Einführung des Schulzwanges scheint die Aufhebung 
Volksschulgeldes. des Volksschulgeldes zu bedingen. Von dieser Auffassung 
aus ordnet das Allgemeine Landrecht die Verteilung der 
Schullasten unter die Hausväter an, ohne Unterschied, ob sie Kinder haben oder nicht. 
Aber während in allen Kulturstaaten die Berechtigung des Schulzwanges anerkannt ist, 
der Schulzwang selbst freilich erst in jüngster Zeit und mit verschiedenem Erfolge, je nach 
dem Kulturzustande der Bölker, zur Durchführung gelangt ist, so ist es doch lange eine 
streitige Frage gewesen, ob damit zugleich die Unentgeltlichkeit verknüpft sein solle. Die 
konstituierende Bersammlung von Frankreich hatte 1791 dekretiert, daß ein öffentlicher Unter- 
richt geschaffen werden solle, gemeinsam allen Bürgern und unentgeltlich für die Teile des 
Unterrichts, die allen Menschen unentbehrlich sind. Aber diese Zdee wurzelte nicht in den 
Anschauungen des französischen Volkes. Guizot bezeichnete sie 1860 noch als den Traum 
hochherziger Geister. Die Begeisterung für die allgemeinen Menschenrechte und die 
Freiheit und Gleichheit hatte der Verfassung des Jahres 1848 allerdings die Bestimmung 
eingefügt: „der Staat schuldet allen Bürgern unentgeltlichen Unterricht“, aber erst 1882 
ist es in Frankreich zur Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts gekommen. In der 
preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 heißt es: „In der öffentlichen 
Volksschule wird der Unterricht unentgeltlich erteilt.“ Der Ourchführung standen aber 
unüberwindliche Hindernisse entgegen und die preußischen Kultusminister sind, getreu 
den Anschauungen der gebildeten Kreise, für die Fortdauer der Schulgelderhebung ein- 
getreten, bis ihnen die kaiserliche Sozialpolitik dies unmöglich machte. Allerdings ist das 
Schulgeld sowohl in den Erlassen der Kultusminister, wie in den Entscheidungen der 
böchsten Gerichteshöfe stets als eine persönliche Remuneration für den von den Lehrern 
erteilten Unterricht angesehen worden. Diese, von liberaler Seite her stets bekämpfte 
Auffassung paßte schwerlich noch zu den Zeitideen, aber es hätte doch wohl die Frage 
aufgeworfen werden können, ob nicht an Stelle jener veralteten Auffassung des Schul- 
geldes eine neue zu treten hätte, die einer Gebühr für besondere Leistungen der Gemeinde. 
  
  
1113
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.