Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

Die Fach- und Fortbildungsschulen 
Von Geh. Oberregierungsrat Dr. von Seefeld, Berlin 
Es ist ein gemeinsames Kennzeichen unserer Volksschulen und unserer höheren 
Schulen, daß das Ziel, nach dem sie hinarbeiten, die allgemeine Bildung ist, und daß 
sie von der Vorbereitung für einen bestimmten Beruf absehen. Da die Volkeschule 
die Vorbildung für einen bestimmten Beruf nicht erstrebt, so handelt ein Lehrer nicht 
schlechterdings verkehrt, der beim Rechnen eingekleideter Aufgaben Preisverhältnisse 
zugrunde legt, die dem wirtschaftlichen Leben nicht entsprechen, oder der im Kopfrechnen 
Operationen ausführen läßt, bei denen der Kaufmann oder der Banlier zur Feder 
greisen würde: er will die Rechenfertigkeit der Schüler üben, und diese Absicht wird 
erreicht. Die Söhne der wohlhabenderen Klassen, die auf einer höheren Schule das 
Reifezeugnis erlangt haben, gewinnen ihre Berufsbildung im allgemeinen durch den 
Besuch der Universität oder einer Hochschule, und der Weg bis zur selbständigen Be- 
tätigung in dem erwählten Berufe ist lang und kostspielig. Die Frage ist nicht unberechtigt, 
ob er für die meisten gelehrten Berufe nicht reichlich lang ist. In dem Alter, wo z. B. 
der junge Philologe, der Mediziner und besonders der Zurist sich zuerst mit eigener 
Verantwortung vor selbständige Aufgaben gestellt sieht, ist es nichts Ungewöhnliches, 
daß sein Altersgenosse, der sich dem Handel oder der Industrie gewidmet hat, bereits 
befugt ist, als Prokurist die Firma eines großen Unternehmens verbindlich zu zeichnen. 
Votwendigkeit besonderer Gleichwohl — die Notwendigkeit einer besonderen 
6 Berufsbildung ist hier unbestritten. Bei den Tau- 
senden von jungen Menschen, die alljährlich zu Ostern 
von der Volkeschule in das wirtschaftliche Leben übertreten, den industriellen und den länd- 
lichen Arbeitern, den Handwerkern und den Kaufleuten, besteht diese Ubereinstimmung nicht. 
Noch heutigentags wird von Zeit zu Zeit die Frage aufgeworfen, ob diese Massen über- 
haupt noch den UAnterricht in einer besonderen Berufsschule brauchen und ob nicht eine 
solche Schule der Prazxis einen Teil ihrer kostbaren Zeit und damit einen Teil ihrer 
Wirksamkeit nimmt. Und doch ist die Frage schon seit länger als 100 Jahren durch die 
praktische Erfahrung im bejahenden Sinne beantwortet. Zwar ist es zweifellos eine 
der starken Seiten im wirtschaftlichen Leben Deutschlands, daß die Heranbildung des 
MNachwuchses für Handel und Gewerbe vornehmlich in Werkstatt und Kontor erfolgt 
und nicht den Schulen allein überlassen ist, und die Gesetzgebung des Deutschen Reiches 
hat sich seit den 80er Jahren mit Erfolg bemüht, dem Lehrverhältnis erhöhte Geltung 
  
Berufsbildung. 
  
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