Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
6 Philosophie. X. Buch. 
  
Anspruch, die für alle Gegenstände des Denkens geltenden Bestimmungen systematisch 
zu MUären und zu entwickeln und eine Ordnungs- und Kategorienlehre auszubauen. 
B. Erdmanns Aufstellungen über alle Gegenstände des Denkens in seiner Logik, 
Meinong,e und seiner Schüler gegenstandstheoretische Arbeiten, E. von Hartmanns, 
Cohens und Windelbands Bemühungen um ein Sostem der Kategorien, Rehmkes 
Pbilosophie als Grundwissenschaft, Driesschs Ordnungslehre sind hervorragende Beispiele 
für die Forschung auf diesem Gebiet. An sie beginnen sich eine allgemeine Zeichenlehre oder 
Semasiologie, eine Theorie der Bedeutungen und Begriffe und eine Lehre von den 
Objekten und ihren Arten anzuschließen, insofern sich alle Gegenstände in Zeichen, Be- 
deutungen und Objekte einteilen lassen, wobei die letzteren wieder in die Gegeben- 
heiten oder Wirklichkeiten des Bewußtseins, in die Realitäten der Natur- und Geistes- 
wissenschaften, sowie der Metaphpsik, und in die Idealitäten der Idealwissenschaften, 
wozu namentlich die Mathematik gehört, zerfallen. Bei allen Vorarbeiten, die hier von 
Husserl, H. GSomperz, A. Narty, C. Stumpf u. a. bereits geleistet worden sind, 
weisen diese Namen zum großen Teil noch auf unerfüllte Programme und Aufgaben 
bin, die schon von der Scholastik, von Christian Wolff und von Hegel gesehen und in 
Angriff genommen waren. Auch gehen Ziele, Methoden und Ergebnisse bei den ver- 
schiedenen Forschern noch vielfach auseinander. Aber schon jetzt zeigen alle diese Be- 
strebungen, daß die Philosophie der letzten 25 Jahre der großen Aufgabe einer 
Differenzierung der Begriffe, der Gebiete und ihrer Beziehungen erfolgreich und 
fruchtbar nachkommt. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht ja zu einem guten Teil 
in genaueren Unterscheidungen, in Beschränkungen der Geltung von Behauptungen 
und in Analysen anscheinend einheitlicher Gegenstände. Außerdem aber lassen diese 
Untersuchungen schon jetzt einen gewaltigen und geschlossenen Unterbau erkennen, der 
den Einzelwissenschaften um so selbständiger gegenübertritt, je mehr er nicht nur die 
von ihnen wirklich behandelten, sondern auch die überhaupt denkbaren Bestimmungen 
und Gegenstände in sich aufnimmt. 
Einzelwissenschaftliche Aber noch in anderer Richtung war eine Annäherung 
Forschungsweise. der Philosophie an die Einzelwissenschaften und damit 
eine Milderung des Gegensatzes zu ihnen erfolgt. Philo- 
sophen widmeten sich selbst der einzelwissenschaftlichen Forschung und ließen eine 
Soziologie als empirische Philosophie der Geschichte und die experimentelle Psycho- 
logie nach dem Muster naturwissenschaftlicher Methoden und Hilfesmittel entstehen. An- 
dererseits waren die Naturforscher unter die Metaphpsiker gegangen und hatten den 
Materialismus auf ihre Fahne geschrieben. Die Rollen schienen förmlich vertauscht zu 
sein. Von Vertretern der Philosophie wurden Klammern und Schrauben zur Untersuchung 
des Seelenlebens aufgeboten, zugleich hatten Positivismus und Kritizismus aller Meta- 
physik entsagt und sich auf das Verständnis und die Unterstützung der Einzelwissenschaften 
beschränkt. Daneben wurden die Welträtsel von philosophierenden Naturforschern ohne 
sonderliche Mühe und mit beneidenswertem Selbstgefühl gelöst und ein spekulativer 
Eifer entwickelt, der hinter Schellings IOdeen und Entwürfen kaum zurückstand. Zweifel- 
  
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