X. Buch. Philosophie. 9
die den geistigen Wechselbeziehungen zwischen den Individuen als GEliedern einer Ge-
meinschaft und den Produkten dieser Beziehungen in Sprache, Kunst, Religion und Sitte
nachgeht. Wundts seit dem neuen Zahrhundert erscheinende Völkerpsychologie ist die
bedenutendste Repräsentantin dieser Bewegung. Daneben sind besonders Tönnies,
P. Barth, L. Stein, G. Simmel und Vierkandt als Vertreter der Soziologie
in Deutschland zu nennen.
Pfochologle. Roch spezialwissenschaftlicher hat sich die Pspchologie als Lehre von
dem Seelenleben des Einzelsubjektes gestaltet. Namentlich die experi-
mentelle Methode, die seit E. H. Weber und G. Th. Fechner in ihr heimisch geworden
war, bat dazu beigetragen, ihr den Charakter einer Einzelwissenschaft immer deutlicher
aufzuprägen. Die Institute, die an einigen deutschen Universitäten (zuerst in Leipzig von
Wundt 1879), leider noch nicht überall, errichtet worden sind, haben zu einer Erweiterung
und Vertiefung unserer Kenntnis der Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens
geführt, die von jedem Standpunkte aus willige Anerkemnung verdienen und finden sollten.
Die Amwendungen der neuen Gesichtspunkte, Methoden und Ergebnisse für andere Gebiete
der menschlichen Kultur lassen sich noch kaum übersehen. Einen Einblick in ihre Mannig-
faltigkeit und Fruchtbarkeit hat kürzlich Marbe in einer lehrreichen Zusammenstellung er-
öffnet. Es gibt schlechterdings kein Gebiet menschlichen Wissemns und Wollens, das nicht in
das Licht einer pspchologischen Betrachtung gestellt werden und dadurch eine eigenartige
Beleuchtung erfahren könnte. Bei dieser Bedeutung der modernen Psychologie muß
es verwunderlich und unerfreulich erscheinen, daß ihre selbständige Entwickelung noch
so sehr gehemmt ist. Wenn irgendwo das Bedürfnis nach Ablöfung einer Einzelwissen-
schaft von der traditionellen äußeren Verbindung mit der Philosophie besteht, so wird
man es hier behaupten dürfen. Wir laufen sonst Gefahr, daß Deutschland, das Mutter-
land der experimentellen Psychologie, durch andere Staaten in seinen Leistungen für
diese Wissenschaft überholt werde.
Asthetik — Pädagogik. Dabei hat diese sich auch für zwei andere, gewöhnlich
zur Philosophie gerechnete Disziplinen besonders frucht-
bar erwiesen, nämlich für die ÄAsthetik und die Pädagogik. Die experimentelle
Asthetik und die experimentelle Pädagogik sind triebkräftige Ableger der experimentellen
Psochologie. Während die erstgenannte Disziplin noch in den Anfängen einer um-
fassenderen Entwickelung steht, hat dagegen die experimentelle Pädagogik, besonders
dank den Bemühungen von E. Meumann und infolge der lebhaften Antellnahme
von seiten der Lehrer, eine reichhaltigere und eingehendere Bearbeitung erfahren.
Ethik und Metaphysik. Auch die Ethik hat sich für diesen Zug der Zeit empfäng-
lich erwiesen und sich z. B. bei Cohen mit der Rechts-
wissenschaft, bei Wundt mit der Völkerpspchologie, bei Anold mit der Biologie und
Soziologie verbunden. Dabei haben die meisten Forscher auf diesem Gebiet, den
Tendenzen der neueren Philosophie entsprechend, eine Unabhängigkeit der Ethik
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