12 Philosophie. X. Buch.
#OAuch der Raturalis mus, der sich in den 80er und 90er Jahren
in Deutschland zur Herrschaft brachte, lebte und zehrte von dem
engen Anschluß an die Naturwissenschaft. Des Menschen Leden, Weollen und Handeln
wurde unter ihre Gesichtspunkte und damit unter eine äußere und mechanische Gesetz-
mäßigkeit gestellt. Die Sinne werden von dem empirischen Naturforscher als letzte Instanz
der Erkenntnis angesehen — die Triebe und Instinkte weirden entsprechend als letzte
Kräfte und Maßstäbe dem Wollen und Handeln zugrunde gelegt. Aufgaben über ihn
gab es demnach für den Menschen nicht mehr. Seine Ziele fielen mit seiner Natur,
seinem sinnlichen und triebhaften Wesen zusammen. Wie ein ökonomisches Verhältnis
zwischen den Begriffen der Wissenschaft und den durch sie auszudrückenden Tatsachen
nach positivistischer Theorie besteht, so regelt auch eine ökonomische Beziehung für den
Naturalisten die Stellung zur Welt und zu anderen Menschen. Im Zeichen des Nutzens,
der Brauchbarkeit für das selbstherrliche Ich hat sich alle Entwickelung danach vollzogen.
Wir sind über solche bei Stirner und Nietzsche vertretenen Anschauungen bereits hinaus-
gewachsen. Wir scheuen uns nicht, Ide#le anzuerkennen und zu verehren, die nicht von
dieser Welt der Sinne und Triebe sind, Natur und Norm zu unterscheiden und uns in
den Dienst großer sachlicher Aufgaben und einer umfassenden Gemeinschaft zu stellen.
Die Uhr des Naturalismus ist heute abgelaufen, und schon bei Nietzsche finden wir
Gedanken, die über sie hinausweisen.
Naturalismus.
Aietzsche. Der ursprüngliche Wert, nach dem sich, wie Nietzsche in der letzten
—— — Periode seiner schriftstellerischen Arbeit lehrt, alle anderen zu richten
haben, ist das Leben, und dieses ist nicht einfach Wille zum Dasein, sondern Wille zur
Macht.,. An dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht mißt sich objektiv allein
der Wert eines Zieles, das wir uns setzen. Dabei ist der Wille zur Macht ein ursprüng-
licher Instinkt, der schon in der Pflanze sich offenbart. Aus seiner Wirksamkeit, aus
seiner Geltung ergibt sich Bejahung des Lebens, Steigerung des Lebensgefühle, sieg-
hafte Stimmung, Fortschritt an Kraft und Größe, körperliches und geistiges Wachs-
tum. Nietzsche hat damit das Alktivitätsbewußtsein im Gegensatz zur Entsagung, zur
demütigen Ergebung in sein Schicksal, einen Voluntarismus schöpferischer Absicht und
Kraft im Gegensatz zu kontemplativer Passivität und unproduktivem Genußleben zum
lebendigen Ausdruck gebracht. So ist er Herold und Prophet aller jener Stimmungen
und Strömungen geworden, die das neue Deutsche Reich entstehen ließen und durch
seine Gründung und Erhaltung entfesselt und stark geworden sind. Nietzsches Dichtung
vom UÜbermenschen ist das hohe Lied auf den kraftvollen, erfolgreichen, in der Ge-
staltung und Schaffung von Lebenswerten rastlos tätigen, von vollberechtigtem Selbst-
bewußtsein erfüllten und sich zu immer neuen Taten anspornenden und erziehenden
Willen. Nach Schopenhauer war dieser die Quelle aller Leiden, und nur in quietistischer
Askese konnte Seelenfrieden, Sittlichkeit und Größe erlangt werden. Nach Nietzsche ist
der Wille Quelle der größten und wertvollsten Freuden. Nur wer sich seine Stellung
in der Welt selbst erobert, wer immer strebend sich bemüht, erringt sich volle Befrie-
digung. Folgte der Pessimismus aus dem Schopenhauerschen, so folgt der Optimismus
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