Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. Philosophie. 13 
  
an der gleich zu erwähnenden, sich ebenfalls eines intuitiven Verfahrens bedienenden 
Pbänomenologie teilnimmt. 
Oiese fordert und übt ein ausgezeichneter deutscher 
Pbilosoph, der in Göttingen wirkende Husserl. 
Von einer gründlichen Kritik des Psychologismus, in den er selbst verstrickt war, aus- 
gegangen, hat er zunächst der Logik durch eine virtuos gehandhabte Bedeutungsanalpse 
die wissenschaftliche Selbständigkeit geben wollen. Aber das an den Bedeutungen 
erprobte Verfahren ihrer Klärung, der Erfüllung ihrer Intentionen wurde alsbald auf 
beliebige Phänomene angewandt und erwies sich auch ihnen gegenüber als eine 
überaus fruchtbare Methode. Alles, was zur unmittelbaren Gegebenheit gebracht 
werden konnte, ließ sich auf sein Wesen untersuchen und die hinreichende Prüfung 
des Ergebnisses an dem jederzeit in Uarer Vergegenwärtigung erfaßbaren Phänomen 
vornehmen. Wesensschauung nennt sich diese Intuition. Sie ist streng durchführbar 
und macht die Philosophie, die sich ihrer bedient, zur strengen Wissenschaft, die sie bis- 
her noch nicht gewesen. Hier ist absolute, restlose Einsicht möglich und damit ein Funda- 
ment für alle Erkenntnistheorie zu gewinnen, das sich an Solidität mit der Mathematik 
messen kann. Auch schon vorher war auf die Tatsachen des Bewußtseins als einen Gegen- 
stand der Erkenntnis, ja selbst der Naturwissenschaft hingewiesen worden. Daß man 
aber an ihnen eine besondere Aufgabe zu lösen, ihr Wesen zunächst einmal für sich fest- 
zustellen habe, war jenen Immanenzphilosophen nicht eingefallen. Das Selbstverständ- 
liche wird — so zeigte sich auch hier — am spätesten zum Problem. 
Ein unabsehliches Arbeitsfeld tut sich hier in der Tat auf. Die Gesamtheit unserer 
Erfahrung, unserer Bewußtseinswirklichkeit, die wir durch eigenes Erleben so gut zu 
kennen glauben, und für die wir viele Namen seit langer Zeit zur Verfügung haben, 
wird zum aufklärungsbedürftigen und einer vollen und strengen Einsicht in sein Wesen 
zugänglichen Gegenstande. Unser Wollen und Fühlen, unsere Empfindungen und Vor- 
stellungen, die vorgefundene Innenwelt in ihrer ganzen Bielgestaltigkeit und daneben 
die farbige, tönende, über weite Räume verteilte Außenwelt des naiven Bewußtseins 
kann der genauesten Analpse unterworfen werden. BNicht bloß zum Zweck der Ver- 
ständigung über die Erfahrung zwischen verschiedenen Subjekten, nicht bloß als Ausgangs- 
punkt einer auf reale Objekte gerichteten Beobachtung und Forschung, sondern als Selbst- 
zweck stellt sich diese Phänomenologie auf den Plan. Sie darf beanspruchen überall beachtet, 
berücksichtigt und betrieben zu werden, wo Gegebenes, wo reine Erfahrung eine Rolle 
spielt. Schon R. Avenarius hatte eine solche Richtung einzuschlagen versucht. Aber indem 
er die psochophpsischen Beziehungen zu einem realen System, dem Gehirn, zur Haupt- 
sache für seine reine Erfahrung machte, entglitt ihm die unmittelbare Analpse des Ge- 
gebenen selbst. Hier dagegen ist die Erfahrung ohne Voraussetzung einer solchen Theorie 
zum letzten und eigentlichen Gegenstand der phänomenologischen Eikenntnis geworden. 
Unbefangene Einstellung auf den bloßen Gehalt der vorgefundenen Wirklichkeit, das 
Gerichtetsein auf einen Bestandteil derselben, unabhängig von seinem Berflochtensein 
in ein Reich realer Beziehungen, von seiner Bedeutung für anderes, von idealen Be- 
Husserl's Phänomenologie. 
  
1159
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.