Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. 27 
  
Der Anteil der Historiker an der Erforschung der verschiedenen Seiten der Kultur- 
geschichte stuft sich je nach den näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen 
Kulturgebiete zum Staat ab. Sie richten nicht ängstlich Scheidewände gegenüber an- 
deren Disziplinen auf. Aber neben der Natur der Quellen gibt es doch auch ein sachliches 
Prinzip der Stoffabgrenzung. Wo der Staat und seine Tätigkeit in Betracht kommt, da 
vornehmlich fühlt der Historiker sich hingezogen: #5# #esr d’-6ga ol pcos 
Mit den Zuristen teilen sich die Historiker in die Erforschung der Verfassungs- 
geschichte. Auch hier weist unsere Periode einen reichen Ertrag auf, namentlich auf 
zwei Gebieten. Einmal hat das große Problem der Entstehung der deutschen Städte- 
verfassung eine Teilnahme der Forschung gefunden (seit 1887) wie vorher nie; es gibt 
keine Frage der Verfassungsgeschichte, der so zahlreiche Schriften und Abhandlungen 
gewidmet sind, wie dieser; rechtsgeschichtlich und wirtschaftsgeschichtlich wird sie mit 
gleichem Eifer diskutiert. Sodann üben die Einführung moderner Verfassungen und die 
in ihr zur Geltung kommenden deen, ihr Verhältnis zur französischen Revolution, die 
Vorgeschichte von deren Idealen, ebenso die Ursprünge der modernen Selbstverwaltung 
in Deutschland (der Steinschen Städteordnung) eine starke Anziehungskraft aus. 
Während die Historiker die Pflege der Kunstgeschichte, der Geschichte der poe- 
tischen Literatur und der Philosophie überwiegend den besondern Fachdisziplinen über- 
ließen, arbeiteten sie auf dem Gebiet der Kirchengeschichte emsig mit den Theologen 
zusammen. In Konkurrenz mit ihnen widmeten sie sich ferner der Geschichte der ge- 
lehrten Studien, so der Universitäten und Akademien. Wir besitzen jetzt eine etwa zur Hälfte 
vollendete allgemeine Geschichte der deutschen Universitäten, eine großzügige Geschichte 
der Berliner Akademie und eine stattliche Zahl von Darstellungen der Geschichte einzelner 
Universitäten, unter denen das Jubiläumswerk der Berliner Universität durch die Be- 
deutung des Gegenstandes und eingehendste Behandlung voransteht. Auf die Organi- 
sation der hohen Schulen ist dadurch ebenso Licht gefallen wie auf große geistige Be- 
wegungen. Die Geschichteunserer eigenen Oisziplin hatte man früher zum größeren 
Teil nur für das Mittelalter verfolgt. Nunmehr ist man tätig, die Lücke für die Neuzeit 
auszufüllen. Wir dürfen uns heute einer beträchtlichen Literatur zur Nanke-Interpre- 
tation, mehrerer Monographien über andere Geschichtsforscher und eines Werks, welches 
die Entwicklung der neueren Historiographie bei der Gesamtheit der abendländischen 
Kulturvölker schildert, rühmen. Wir besitzen auch eine in großem Zug gehaltene Dar- 
stellung der Entwicklung der Historiographie von den Völkern des Altertums bis zu den 
neueren Jahrhunderten. 
Die Motivenforschung. Oie reiche Entfaltung der wirtschaftsgeschichtlichen 
Literatur wie der kulturgeschichtlichen Studien über- 
haupt entspringt einer Reihe verschiedener Antriebe. Einer der stärksten ist die Motiven- 
forschung. Sie ist ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit. Die Zahl der Arbeiten über 
die „Entstehung“, den „Ursprung“, die „Ursachen“ einer historischen Erscheinung ist 
nie so groß gewesen wie heute. Indem man sich bemüht, die Motive und Ursachen der 
bistorischen Erscheinungen aufzusuchen, wird man darauf gewiesen, nach den Kultur- 
  
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