X. Buch. Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. 29
schon geteilt wurden, auf die Spitze. Er war einer von vielen, eifriger nur und mit mehr
Ansprüchen als die anderen. Der leidenschaftliche Kampf, den seine Angriffe veranlaßten,
hat das Ergebnis einer vollkommenen Rechtfertigung der alten historischen
MRethode gezeitigt. Er hat das Gute gehabt, daß die Historiker sich in erhöhtem Maß
ihres Rechtes bewußt geworden sind. Insofern dies Resultat indirekt durch den von Lamp-
recht veranlaßten Kampf herbeigeführt worden ist, wird ihm ein Berdienst um die Klä-
rung und Vertiefung der Anschauung zuzusprechen sein. Aber seine Theorie selbst wurde
ganz und gar zurückgewiesen. Heute lehnt man allgemein die Konstruktion naturgesetz
licher Entwicklungsreihen ab. Heute weigert sich kein Historiker, der leitenden Persön-
lichkeit ihr Necht zuteil werden zu lassen. Das Recht des Individuums ist in ver-
stärktem Maße zur Anerkennung gelangt. Das besondere Leben gilt uns mehr als
der unentschiedene Strudel. Der Historiker richtet sein Augenmerk nicht bloß auf das
Allgemeine, Regelmäßige, sondern vor allem auch auf das Einzigartige, das für den
geschichtlichen Fortschritt Bedeutsame. Man weiß, daß die Geschichtswissenschaft ihre
eigene Methode hat. Lamprecht selbst sah sich im Lauf der Auseinandersetzung mit seinen
Gegnern genötigt, seine Theoreme zu wandeln oder zu modeln.
Wie schon bemerkt, war er es übrigens nicht allein, der der Aeigung folgte, die ge-
schichtliche Entwicklung nach der Analogie der Naturvorgänge zu deuten. Er stand eben
innerhalb der positivistischen Flut. Die Aufstellung von „Stufentheorien“, von Gesetzen,
denen die geschichtliche Entwicklung in naturgesetzlicher Weise unterworfen sei,
geschah von vielen Plätzen aus. Und so hat sich denn die Geschichtswissenschaft mit
mancherlei Entwicklungstheorien auseinanderzusetzen gehabt. Im Kreise der wirtschafts-
geschichtlichen Studien spielte in den letzten Zahrzehnten vor allem die Stufentheorie
„Haus-, Stadt-, Volkswirtschaft“ eine Rolle. Die historische Forschung hat darge-
tan, daß diese Kategorien mit Erfolg zur Beranschaulichung bestimmter wirtschaftlicher
Zustände verwertet werden können, daß es aber durchaus unzulässig ist, jene drei Stufen
in ein festes historisches Berhältnis zu bringen, das für alle Bölker gleichmäßig gelten oder
das gar den ganzen Gang der Weltgeschichte bezeichnen solle. In dem Kampf gegen die
Versuche, die naturalistische, positivistische Auffassung in der Geschichtswissenschaft zur
Herrschaft zu bringen, hat uns die Philosophie, insbesondere die Windelband-Rickertsche
Pbilosophie, den fruchtbarsten Beistand geleistet, nicht in dem Sinne, daß sie uns ein
philosophisches Spstem auflegen wollte, sondern indem sie nachwies, daß der alte Weg,
den die Historiker gegangen, der richtige ist.
Pflege und Ausbau der politischen Esist eine Erweiterung des Arbeits- und Ge-
Geschichtschreibung. sichtsfelds, dessen sich die deutsche Geschicht-
schreibung der letzten Jahrzehnte rühmen
kann. Aber esist nicht etwa (wie manche kulturgeschichtliche Fanatiker prophezeit hatten)
ein Zeitalter heraufgezogen, welches die früher fast ohne Rivalen dastehende politische
Geschichtschreibung entthront hätte. Diese bleibt vielmehr im Vordergrund stehen.
Kichtig verstanden, sind alle einzelnen kulturgeschichtlichen Disziplinen Hilfswissenschaften
der politischen Geschichte, mag das Tagewerk in einer Hilfswissenschaft auch ganze Scharen
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