30 Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. X. Buch.
vollkräftiger Arbeiter fũür sich beanspruchen. Was sie zutage fördern, mündet in die poli-
tische Geschichtschreibung ein; es dient dazu, die politische Betrachtung zu vertiefen.
Diese Wirkung auf die politische Geschichtschreibung haben denn auch die so eifrig ge-
pflegten kulturgeschichtlichen Studien hervorgebracht. Von einer Entthronung der poli-
tischen Geschichte kann ferner darum nicht die Rede sein, weil sie von sich aus sich reich zu
entfalten und zu verzweigen, neue Gegenstände zu erfassen gewußt hat.
Der Führer der politischen Geschichtschreibung ist in unserer Periode H. v. Treitschke.
Er verbindet die alte mit der neuen Zeit. Er kann zu den Vertretern der klassischen poli-
tischen Geschichtschreibung gerechnet werden, vereinigt aber mit deren Vorzügen in seiner
„Deutschen Geschichte im 19. Zahrhundert“, deren erster Band in dem bedeutungsvollen
Zahre 1879 erschien, eine unvergleichliche Gabe kulturgeschichtlicher Schilderung und
öffnet sich allen den Fragen, die unsere Zeit stellt. Er hat wohl in früherer Zeit mit
theoretischen Erörterungen in sozialpolitischen Fragen eine Stellung eingenommen, die
dem alten Liberalismus entsprach. Praktisch ist er doch, nicht am wenigsten mit seiner
„Deutschen Geschichte“, der Herold der neuen Biemarckschen Politik geworden. Und er
gehört, darüber hinaus, zu denen, die der imperialistischen Politik vorgearbeitet haben.
Bevorzugung der bio- Nach Treitschke hat die politische Geschichtschreibung die
graphischen Form. Form der Biographie bevorzugt; wie um einen Pro-
test gegen die modischen massenpsychologischen Theorien
einzulegen. Rudolf von Habsburg (von O. Redlich), Lopola (von E. Gothein), Fried-
rich d. Gr. (von NR. Koser), Männer der Reformzeit: Scharnhorst und Stein (von
M. Lehmann), GEneisenau (von H. Delbrück), Bopen (von F. Meinecke), Radowitz
(von F. Meinecke), Kaiser Wilhelm I. (oon E. Marcks) und Bismarck (von M. Lenz
und E. Marcks; von diesem der erste Band einer ganz umfassenden Bismarckbiographie,
der uns namentlich lehrt, wie Bismarck aus den konservativen Kräften Preußens empor-
wächst, und in unvergleichlicher Nachempfindung seine Wendung zum Ernst der christ-
lichen Religion schildert) haben Biographien erhalten, denen die unmittelbar voraus-
gehende Generation nicht so leicht etwas an die Seite zu setzen vermag.
Andere Formender politischen Ooch hat die politische Geschichtschreibung nicht
Geschichtschreibung. bloß den biographischen Rahmen verwertet. Nach
wie vor ist auch die ganze Staaten- oder Volks-
geschichte für weite Zeiträume dargestellt worden. Wir verzeichnen hier F. v. Bezolds
Geschichte der deutschen Reformation, ein gerade für unsere Zeit charakteristisches Werk,
insofern es den Ursachen der Reformation, ihrer Vorgeschichte breiteren Naum, ein-
gehendere Aufmerksamkeit gewährt, als es je in Darstellungen der Reformationsgeschichte
der Fall gewesen war; ausgezeichnet auch durch die diesem Autor überhaupt eigene feine
Würdigung der literargeschichtlichen Erscheinungen. Bei seinem Erscheinen (1890)
konnte es zugleich als eine notwendige Auseinandersetzung mit Zoh. Janssens vom ka-
tholischen Standpunkt aus unternommener Schilderung der Reformationzgeschichte
aufgefaßt werden. Seitdem hat sich, wie hier nebenbei eingeschaltet sei, die katholische
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