Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
32 Geschichtschreibung und Geschichtsforschung. X. Buch. 
wird energischer als je erfaßt, darüber aber der Rankesche Gedanke des Ineinandert- 
wirkens der Völker und Staaten, der gegenseitigen Bedingtheit der inneren und äußeren 
Verhältnisse des Staates keineswegs vergessen. Zhren politischen Charakter bewahrt 
unsere Geschichtschreibung auch damit, daß sie das Asthetentum (etwa eines F. Aau- 
mann) überwiegend ablehnt. Der lebhafte Sinn für die politischen Bedürfnisse und 
Fragen der Gegenwart verbindet sich mit ernstem Streben nach Objektidoität. Biel- 
leicht ist zu keiner Zeit die Geschichtschreibung so objektiv gewesen wie heute. Diese 
Objektivität wird wesentlich erreicht durch die Steigerung der Erkenntnis, daß wir 
von allgemeinen Anschauungen, von irgendwie gestalteten Weltanschauungen abhängig 
sind, daß wir nicht ohne bestimmte I#deale zum historischen Urteil gelangen können, und 
daß unsere Zdeale immer einen subjektiven Bestandteil in sich fassen werden. Wir läutern 
unsere Vorstellungen an unsern in stiller Forschung gewonnenen historischen Beobach- 
tungen; aber wir bleiben uns immer dessen bewußt, daß ein letztes verbindendes Element 
doch nicht aus bloßer Betrachtung der Vergangenheit gewonnen wird. „Die Vorzeit“ 
— sagt ein neuerer Geschichtschreiber (D. Schäfer) — „kann der Lebende nur sehen unter 
dem Gesichtswinkel, den sein Standpunkt zuläßt; versucht er, das zu vergessen, so bleibt 
sein Wissen tot. Er steht unter einem gewissen Zwange, wenn er an die Vergangendeit 
nicht nur die Fragen stellt, die in ihr beschlossen sind, sondern auch die, die unserem Ent- 
wicklungsstande naheliegen.“ Besonders für die Auswahl des Stoffs beeinflußt uns 
der Komplex von Fragen und Forderungen, die die Gegenwart an uns stellt. Aber mit 
diesem „natürlichen Drange“ bleibt die Objektivität vereinbar, wenn wir uns eben jener 
Bedingtheit unserer Urteile bewußt sind. Der Erweiterung der Gesichtspunkte der poli- 
tischen Geschichtschreibung, ihrer Befruchtung durch die kulturgeschichtliche, insbesondere 
die wirtschaftsgeschichtliche Forschung haben wir schon gedacht. Der Unterschied der 
älteren und der neuen Zeit tritt uns greifbar entgegen, wenn wir etwa die Aufsätze 
Max Ounckers, die in seinen „Abhandlungen aus der neueren Geschichte“ vereinigt sind, 
mit Otto Hintzes vor wenigen Jahren erschienenen „Historischen und politischen Auf- 
sätzen“ vergleichen. 
Arbeitsteilung. Wir erwähnten die große Zahl bistorischer 
Zusammenfassende OHarstellungen. Monographien aus unserer Periode. Seit 
NRiebuhr und Nanke steht ja innerhalb der 
Geschichtswissenschaft die Geschichtsforschung und demgemäß die Monographie, die 
Untersuchung im Vordergrund. Wenn im Lauf des 19. Jahrhunderts die Zahl der 
monographischen Arbeiten ständig gewachsen ist, so war doch dies Wachstum bieher 
nie so stark wie in den letzten Jahrzehnten. Frisch eröffneter Quellenstoff, das Auf- 
tauchen neuer Probleme und die Notwendigkeit, eine These bis ins lleinste Detail 
auf ihre Wichtigkeit hin zu prüfen, auch das steigende Interesse für die geschichtlichen 
Dinge im ganzen bringen diese Fülle von Detailarbeiten hervor. Die Spezialisierung 
ist heute die Voraussetzung für eine erfolgreiche Förderung unserer Erkenntnis, und 
auf dem Wege der weitgehenden Arbeitsteilung und der Konzentrierung auf ein 
spezielles Gebiet ist unsere Erkenntnis tatsächlich gewaltig gefördert worden. Unsere Zeit 
  
  
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