36 Philologie. X. Buch.
Es brachte ein Gedicht des gefeiertsten Lprikers der platonischen Zeit, und überhaupt hat
die Lprik stark gewonnen. ODoch es kann hier nicht einmal das Wichtigste genannt werden.
Wer die Funde übersieht, weiß, daß ziemlich die ganze Literaturgeschichte gezwungen ist,
ihre Positionen zu revidieren, und mehr noch bedeutet, daß die Grundlage der ganzen
Textkritik sich verschoben hat. Der Willkür und ebenso dem Köhlerglauben an den bvzan-
tinisch überlieferten Buchstaben ist der Boden unter den Füßen verschwunden; bis diese
Erkenntnis durchdringt, wird es freilich noch eine Weile dauern. Aber es ist doch Uar er-
faßt, daß alle Textkritik darauf beruht, die Geschichte des Textes von der Niederschrift
durch den Verfasser bis auf die zufällig erhaltenen Bücher herab zu verfolgen; dann
erst weiß man, inwieweit es möglich ist, das Echte zu erreichen.
Die Hauptmasse der Pappri sind Privaturkunden, Akten, Briefe. Das Griechisch
der Halbgebildeten oder ganz Ungebildeten, das wir da kennen lernen, soll man im Werte
nicht überschätzen; aber der Einblick, den wir in die Verwaltung, das Rechtsleben und
das ganze wirtschaftliche Getriebe tun, ist unvergleichlich. Es war unvermeidlich, daß sich
für diese Pappri ein Spezialistentum ausbildete; glücklicherweise hat es aber nicht an
Gelehrten gefehlt, die, das Ganze überschauend und ordnend, das Wesentliche heraushoben.
Igpptens Eigenart zwingt in Verallgemeinerungen vorsichtig zu sein; allein es ist doch
möglich gewesen, von hier aus eine so wichtige allgemeine Erscheinung wie den Kolonat,
den Rückschritt von Freiheit zur Hörigkeit des Landvolkes, zu erklären und die Rück-
schlüsse auf das griechische Necht, noch mehr auf das römische, sind schon hochbedeutend
und werden es noch mehr werden; das römische Recht hat in den Provinzen vieles
aus den lokalen älteren Rechten angenommen, dafür aber auch die jüngeren Rechts-
gebilde des Orients ähnlich wie die der Germanen auf dem Boden des alten Reiches
beeinflußt. Durch die ägpptischen Urkunden ist auch die junge bpzantinische Wissen-
schaft gezwungen worden, sich historische Fragen zu stellen, denen sie sonst noch meist
auswich.
Drei bändereiche Textpublikationen hat die Akademie unternommen. Die Samm-
lung der Aristoteleskommentare ist vollendet; die der altchristlichen Schriften bis zum
Aicaenum weit vorgeschritten, die der antiken Arzte in Verbindung mit der Kopenhagener
Akademie begonnen. Harin, daß endlich die Dokumente des alten Christentumes urkund-
lich gesammelt werden, wozu die auf breitester Basis unter Führung der Göttinger Ge-
sellschaft unternommene Edition des griechischen alten Testamentes und die gleichartigen
Arbeiten für das neue Testament gehören (zur Herausgabe der großen Kirchenschrift-
steller des 4. Jahrhunderts sind erst Ansätze gemacht), spricht sich ein ungemein bedeu-
tender Fortschritt aus: die widergeschichtliche Aussonderung einer sacred philology, wie
die Engländer sagen, ist überwunden. Für die Sprache ist das zugestanden: das Trug-
gebilde einer besonderen neutestamentlichen Gräzität ist allgemein aufgegeben; Ver-
suche, die literarischen Erzeugnisse der Christen aus der allgemeinen Entwickelung der
Stile und Formen zu lösen, werden zwar noch gemacht; aber sie können nur ephemeren
Erfolg haben. Und auf die Dauer läßt sich auch das Christentum von der allgemeinen re-
ligiösen Bewegung derselben Zeit so wenig isolieren, wie sein dogmatisches Lehrsystem
von der gleichzeitigen Philosophie oder die Predigt von der übrigen Rhetorik, oder die
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