X. Buch. I. Die Altertumswissenschaften. 37
Kirchengeschichte von der Reichsgeschichte. Grade auf dem Gebiete der Religionsforschung
entfaltet sich, angeregt namentlich durch Hermann Usener, eine große Rührigkeit. Einer--
seits wird der Kultus und die religiös bestimmte Sitte nach allen Seiten durchforscht und
durch Vergleichung mit fremden, namentlich primitiven Erscheinungen erläutert, was
dann der Frage nach dem Ursprung der Religion zugute kommt. Andererseits werden die
Unterströmungen verfolgt, welche infolge der Kulturmischung des Hellenismus zu der
Abkehr von den alten nationalen Kulten und dem Drängen nach einer neuen, der Einzel-
seele Erlösung schaffenden Religion führen. Wohl fassen wir sie meist erst in der Kaiser-
zeit, in der kleinasiatische, semitische, persische Götter namentlich durch das Heer überall
bindringen. Allein das liegt an unserer Uberlieferung. Und diese gestattet die ppthago-
reische Bewegung und die so ungemein wichtige Astrologie (die eigentlich erst in den letz-
ten Jahren entdeckt ist) bis in das 2. Zahrhundert v. Ch. zu verfolgen. Vor allem aber
ist in dem Syprer Poseidonios ein Philosoph ganz kenntlich geworden, der einerseits an
Platon und Aristoteles in seiner tiefen und weiten Wissenschaft anknüpft, andererseits
eine religiöse Stimmung in vollen Tönen erklingen läßt, die dem edelsten semitischen
Monotheismus wesensverwandt ist. Dem Poseidonios hat die erfolgreiche Arbeit am
meisten gegolten, doch ist es noch nicht an der Zeit, seine gesamte Hinterlassenschaft zu sam-
meln, wie es für Epikur und die alte Stoa erreicht ist; noch läßt sich seine Nachwirkung nicht
genügend übersehen. Die Aristoteleskommentare ermöglichen ja erst das Eindringen in
die Philosophie der Kaiserzeit, eine große Aufgabe der Zukunft, die auch das christliche
Sostem einbeziehen wird.
Die Medizin ist von allen naturwissenschaftlichen Disziplinen des Altertums am
besten kenntlich, greift auch zu allen Zeiten in die allgemeine Naturwissenschaft und
Pbilosophie über. Wenn auch das Fundament zu ihrer Rekonstruktion erst gelegt wird,
so sind doch bedeutende Ergebnisse auch für die Zeiten ihres Werdens und ihrer Blüte
bereits gewonnen, und dasselbe gilt für die meisten naturwissenschaftlichen und technischen
Disziplinen, vorab die wichtigste von allen, die Mathematik, aber auch z. B. für die Bo-
tanik. Besonders erfreulich ist, daß das Zusammenarbeiten des Philologen und Tech-
nikers die Haupträtsel der antiken Geschütze gelöst zu haben scheint: solche Arbeitsgemein-
schaft wird noch viel erreichen.
Da die Römer keine Wissenschaft gehabt haben, kommt ihnen die Arbeit auf allen
diesen Gebieten nur mittelbar zugute. Aber dafür springt die Bedeutung des spezifisch
Römischen erst recht in die Augen, wenn sie sich an der griechischen Folie abhebt. Das
römische Recht bleibt römisch, und sein Wert wächst, grade wenn man die Volkerechte
daneben stellt, wie es den großen Zuristen nur zugute kommt, daß die Gegenwart ihre
Schriften von den Interpolationen der Byzantiner befreit. Plautus, der der vorigen Ge-
neration nur ein Sprachdenkmal war, ist als Dichter entdeckt und hat nur gewonnen,
seit Menander wieder da ist. Cicero und Vergil sind uns wieder wahre Größenzihre Ver-
kennung war kein Ruhm der deutschen Philologie und Historie. In der Ara Pacis, die
von unserem römischen ZInstitut untersucht ist, haben wir nun genau denselben Geist
der großen Augusteischen Zeit, wie in den Liedern des Horatius. Augustus, den Mommsen
verkannte, hat seinen verdienten Platz gefunden. Man hat aufgehört, in der Kunst der
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