Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
40 Philologie. X. Buch. 
  
der Fächer nach der Realienseite hin. Noch bei Gründung des Berliner Seminars für 
orientalische Sprachen — schon in dieser Schöpfung kũndet sich eine neue Zeit an — stehen 
eben die Sprachen im Vordergrund; der Orientalist war in erster Linie Sprachforscher, 
Linguist, der im Nebenamt die antiquarischen oder realistischen Themata seines Faches mit 
abhandelte. Gewiß ist die philologische Bildung unerläßlich, und mit Recht sind noch viele 
Gelehrte ausschließlich sprachlich interessiert, aber auch sie machen ihre Studien immer 
mehr am lebenden Objekt, während andere sich offen dazu bekennen, die Sprache nur als 
Mittel zum Zweck zu betreiben. Dieser Zweck aber ist die Kenntnis der gesamten Kultur- 
verhältnisse des betreffenden Gebietes, mögen sie gegenwärtige oder vergangene sein. 
Religionswissenschaft, Archäologie, politische und Wirtschaftsgeschichte werdeen zum Selbst- 
zweck auch in der Orientalistik und hören auf als Schmuck philologischer Textinterpretatio- 
nen zu dienen. Noch muß sich zwar häufig der Orientalist als „Mädchen für alles“ ver- 
dingen, aber ein neuer Norgen steht vor der Tür, da die Wichtigkeit des Orients für 
unsere deutsche Gegenwart uns zwingen wird, die innerlich längst vollzogene Gliederung 
durch Trennung der Lehrstühle auch äußerlich anzuerkennen. Neues Leben sprengt überall 
die historischen Formen. Und 20 Jahre nach der Gründung des orientalischen Seminars 
ist das Hamburgische Kolonialinstitut, so recht ein Kind der Gegenwart, der Vermittlung 
des realen Wissens vom Orient und Afrika gewidmet, ohne daß darum die sprachliche 
Ausbildung zu leiden hätte. Auch das Seminar für orientalische Sprachen hat sich dieser 
Verschiebung des Schwergewichts schnell angepaßt. Daß Deutschland zwei so große 
Institute in so kurzer Zeit erzeugen konnte, zeigt, wie wichtig die Orientalistik auch für 
die Prazxis des Lebens geworden ist. 
Aber geschäftliche Lokalkenntnis, dienstliche Noutine und sprachlicher Drill sind doch 
nur die subalternen Außerungen der großen modernen Bewegung zum Orient hin. Wirk- 
lich vorwärts wird uns nur eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Welt des Ostens 
bringen. Die neuen Aufgaben fordern gebieterisch eine neue Bildung. Diese hat aber eine 
wissenschaftliche Pionierarbeit zur Voraussetzung, die sich von praktischen Zwecken frei 
Hält, ohne deshalb gleich die Fühlung mit dem Leben zu verlieren. Das historische Ganze 
des Orients gilt es zu erschließen. Hier ist unsere neue Welt nicht nur nach der kapitalisti- 
schen Seite orientiert. Wie ein Rückschlag der tieferen menschlichen Bedürfnisse gegen die 
Materialisierung und Merkantilisierung unserer Zeit mutet es an, daß das religiöse 
Interesse sich bei uns in zahlreichen Formen wieder ebenso regt wie in der Zeit der aus- 
gehenden Antike. Auch wir richten den Blick nach dem Osten, nicht um die AMopsterien 
Persiens und Babyloniens begierig uns anzueignen, sondern um die dichten Schleier 
von unserer eigenen Religion und ihrem historischen Werdegange zu lüften. Wohl hatte 
sich die Alssyriologie längst zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt, aber erst die 
Bibel-Babelfrage hat sie aktuell werden lassen. 
Der Bibel-Babelstreit war nur eine populäre Episode in dem großen geistigen Ringen 
der Wissenschaft um die Wiedererweckung des alten Orients. Dankbar wird es die 
Geschichte dieser Disziplin anerkennen, wieviel Förderung sie dem lebendigen archäolo- 
gischen Interesse des Kaisers verdankt. Als Protektor der Deutschen Orient-Gesellschaft 
hat er diesen Bestrebungen direkt und indirekt die Wege geebnet. Asspriologie und Agypto- 
1184
	        
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