46 Philologie. X. Buch.
in einem Stupa einen Reliquienbehälter der Sakyas, der Verwandten des Buddha,
der einen Teil seiner Uberreste enthielt, und 1909 gelang es, auf GErund literarisch-
archäologischer Feststellungen, bei Peshawar die berühmte Pagode nebst Inhalt auf-
zufinden, die einst König Kaniska über einem Teile der angeblichen Reliquien Buddhas
erbaut hatte, und die von dem chinesischen Pilger Hüan Tsang im 7. Jahrhundert be-
schrieben ist. Auch die Sprach- und Literaturforschung, die Bölkerkunde und Volkskunde,
die Kunstgeschichte und Architektur sind durch die archäologische Durchsuchung des Landes
auf ihre Rechnung gekommen: hunderte von Sprachen und Oialekten sind und werden
in Indien festgestellt; zahlreiche für die Kulturgeschichte bedeutungsvolle Sanskrit-
werke, die bisher unbekannt waren, finden sich an; die klarer werdende indische Geschichte
läßt die Umrisse des gewaltigen Völkergemisches erkennen, und die Aufdeckung der
Märchen- und Fabelliteratur, die ihre Spuren auch dem europäischen Volkstum sichtbar.
eingegraben hat, bringt die alte brahmanische Kultur gegenüber der buddhistischen
wieder zu Ehren; die indische Kunstgeschichte ist eine jetzt erst entstehende Wissenschaft,
und wir fangen wieder an, einzusehen, daß die indische Kunst Zahrhunderte früher da
war als die neu entdeckte graeko-indische Gandhara-Kunst, die in der ersten Begeisterung
wohl etwas überschätzt wurde. So hat sich auch die große Enzyklopädie, der „Grund-
riß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde“ bereits bis zu ihrem
18. Bande erweitert, und von dem Riesenwerke des Mahabharata, das die Kenntnis
des indischen Altertums wie kaum ein anderes Literaturdenkmal erschließt, ist die kri-
tische Ausgabe der vereinigten Akademien um ein gutes Stück gefördert. #Auch das
Studium des Buddhismus ist durch die Anregungen der archäologischen Forschung
sachgemäßer geworden. Man hatte sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß im
Kanon der südlichen Buddhisten allein die wirkliche Religion Sakyamunis zu suchen
sei, und das im Zahre 1893/94 in Siam neu herausgegebene Pali-Tripitaka galt in Sprache
und Inhalt als einzige Norm. Demgegenüber blieben das Mahayana-System des
Nordens, das doch den Buddhismus erst zu einer Weltreligion gemacht hat, und seine
gewaltige Literatur vernachlässigt. Hier hat das Wachsen der geschichtlichen Kenntnis
gründlichen Wandel geschaffen. Das Eindringen in die Schriften der nördlichen Bud-
dhisten, vor allem aber die großartigen Entdeckungen in Turkistan, über die noch mehr
zu sagen sein wird, haben eine ungeahnte Welt erschlossen. Sie haben gezeigt, daß das
Pali keineswegs „die beilige Sprache“ der Buddhisten war, sondern daß ein nördlicher
Kanon, und zwar im Sanekrit wie in Pakrit-Dialekten geschrieben, vorhanden gewesen
ist, der sich inhaltlich mit dem südlichen deckte und so die Zuverlässigkeit der Uberlieferung
verbürgt. Allem Alnschein nach gehen beide auf eine gemeinsame, noch nicht bekannte
Quelle zurück.
Aber die immer suchende Wissenschaft fand auch, daß sie nicht innerhalb der Grenzen
des eigentlichen Indien verharren dürfe, wenn sie den ganzen Wirkungesbereich der
indischen Kultur ermessen wollte. Wie die von den Franzosen in ihrem Schutzgebiet
Kambodscha aufgefundenen Tempelruinen und die bis in das dritte Jahrhundert
zurückgehenden, teils in der Khmer-Sprache, teils in Sanskrit verfaßten Schriften dar-
tun, daß hier, in Hinterindien, einst eine hochentwickelte, brahmanische, später bud-
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