Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. III. Die deutsche Philologie. 53 
  
gesteigerte und tiefer schürfende Sammeltätigkeit anzuregen, die der starken Wirkung 
der Brüder Grimm immerhin verglichen werden kann. Zn den meisten deutschen Land- 
schaften sind Vereine für Volkskunde entstanden, nicht alle unter so glücklichem Stern 
und so strenger erster Leitung wie in Weinholds Heimatprovinz Schlesien, manche 
befangen in den Kinderkrankheiten, die dieser immerhin nicht ungefährliche Boden erzeugt, 
aber keine ohne eigenes Verdienst, und einzelne wie die für Deutschböhmen und für die 
Schweiz von einer Arbeitskraft und Produktivität, die uns Hochachtung abnötigt. 
Oieser Beschäftigung mit den Erzeugnissen der Phantasie und den Lebensäußerungen 
des Volkes bei der Arbeit und an festlichen Tagen geht zur Seite eine gesteigerte und 
wissenschaftlich gehobene Beschäftigung mit den Mundarten. Das Interesse dafür 
war auch Jacob Grimm keineswegs fremd, und von seinen Mitarbeitern hat sich der Er- 
forscher der Bayprischen Mundarten Joh. Andreas Schmeller unvergänglichen Ruhm 
erworben. Die Richtung, welche Wilhelm Scherer der Sprachwissenschaft gab und die 
tiefgreifenden prinzipiellen Erörterungen Hermann Pauls drängten auf das Studium 
der lebenden Sprache hin, und zwar an ihren lebendig sprudelnden Quellen, in den Volks- 
mundarten. Aber den stärksten Anstoß gab Eduard Sievers, der erkannte, daß die Phonetik 
nur indirekt, auf dem Umwege über das Studium der Mundarten, für die bistorische 
Sprachwissenschaft nutzbringend gemacht werden könne, und so der Anreger der ersten 
streng wissenschaftlichen Monographie über einen deutschen Dialekt wurde (Winteler, 
Die Kerenzer Mundart 1877), der dann anfangs zögernd, später in größerer Zahl und 
zum Teil in dichten Gruppen Beschreibungen deutscher Mundarten gefolgt sind. Wenn 
dabei anfangs das Alemannische, später das Bayrisch-Osterreichische, Thüringische und 
Obersächsische, neuerdings auch das Schlesische und Niederrheinische stark hervortreten, 
so macht sich darin der Einfluß einzelner Lehrer deutlich geltend. Durchaus unabhängig 
von Sievers war nur Georg Wenker (gest. 17. Juli 1911) in Marburg, der aus eigenster 
Iniative den Sprachatlas des Deutschen Reiches begründete und, bis im Zahre 
1888 das preußische Kultusministerium das große nationale Unternehmen übernahm, 
diesen Atlas jahrelang auf eigenen Schultern getragen hat. Mit den Ergänzungsblättern 
wird das Riesenwerk nicht viel weniger als 2000 Wortkarten umfassen: damit ist der 
deutschen Dialektgeographie eine Grundlage geboten, die durch alle vorauszusehenden 
und erwiesenen Mängel im einzelnen in ihrer Festigkeit als Ganzes unerschüttert 
bleibt. Es ist Aussicht vorhanden, daß das Werk in einer Auswahl von Karten auch zur 
Publikation gelangt. Inzwischen ist die Tätigkeit von Wenkers Nachfolger Ferd. Wrede 
auch darauf gerichtet gewesen, in Einzelpublikationen die historische Bedingtheit von 
Mundarten zu ermitteln und an Stelle der vagen Vorstellung von alten Stammes- 
grenzen deutlichere Begriffe zu setzen. 
Neben die beschreibende Einzelforschung und die Dialektgeographie stellt sich als 
drittes die Lezikographie der Mundarten. Durch ein halbes Jahrhundert stand das 
Baperische Wörterbuch von Z. A. Schmeller auf einsam ragender Höhe. Dann begann, 
durch ein einzigartiges Zusammenwirken gelehrter und volkstümlicher Kräfte ins Leben 
gerufen und getragen, das „Schweizerische Idiotikon“ (Bd. l, 1881) es zu überragen, 
und ihm tritt das „Schwäbische Wörterbuch“ ebenbürtig zur Seite (Bd. I, 1904), das, 
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