Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
X. Buch. IIl Oie deutsche Philologie. 55 
  
ans Licht treten; im eigenen Heim sammelt sie ein umfassendes Repertorium der deutschen 
Handschriften, das neben den Höhen auch die Flachgründe der literarischen Kultur eingehend 
beleuchten wird; und sie hat, gestützt vor allem auf die Arbeitskraft und vielseitige Sach- 
kunde Gustav Roethes, einen Herzenswunsch aller Freunde der alten Literatur erfüllt, 
und in rascher Folge eine lange Reihe von wichtigen und interessanten deutschen Tez- 
ten des Mittelalters in vorsichtig gesäuberter handschriftlicher Uberlieferung ans Licht 
gebracht, auf deren nähere Bekanntschaft wir lange und schmerzlich verzichten mußten. 
Seit den Zugendtagen unserer Wissenschaft ist unsere Kenntnis des wichtigsten Quellen- 
stoffes nie in ähnlicher Weise bereichert worden. Hier liegt Material zu sprachlichen und 
literargeschichtlichen Untersuchungen in Fülle vor uns ausgebreitet, und ganze Gebiete 
der Epigonenliteratur, wie z. B. die Dichtung des Deutschen Ordens, sind uns neu er- 
schlossen worden. 
Wir haben bisher im wesentlichen von der Beschränkung und der Ausbreitung der 
Forschungsgebiete gesprochen, wir holen nach, was von der Zusammenfassung der Ar- 
beit, von der Vertiefung der Forschung und von der Fortschritten der Methoden in den 
letzten fünfundzwanzig Jahren noch zu berichten ist. Auf allen Gebieten herrscht, wie 
wir sahen, eine rege Tätigkeit, aber die zusammenfassende Darstellung hat sich meist auf 
die enzyklopädische Form im größeren Rahmen beschränkt. Seit Scherers Literatur- 
geschichte ist keine einheitliche Darstellung der geistigen Entwicklung der Nation, wie sie 
sich in der schönen Literatur spiegelt, erschienen, wenigstens keine, die einen wissen- 
schaftlichen Charakter trüge; und mit Ausnahme des 19. Jahrhunderts hat auch kein 
größerer Zeitraum die Gelehrten zu wissenschaftlicher Harstellung verlockt. Von einer 
Darstellung des 18. Jahrhunderts hat Albert Köster Proben gegeben, die viel ver- 
sprechen, für die Nomantik bot uns Oscar F. Walzel vorläufig eine durchaus eigene 
Darstellung auf engem Naume. Biographie und Edition haben für Lessing das Beste ge- 
leistet in den Arbeiten Erich Schmidts und Franz Munckers, sind für Goethe und Schiller 
üÜberaus ergiebig gewesen, haben aus der vorklassischen Periode Gottscheds Andenken 
bald mit kritischer Methode, bald in unkritischem Ubereifer von Schlacken zu befreien 
gesucht, aus den Männern des Sturms und Drangs Klinger und Lenz mit besonderer 
Vorliebe behandelt. Während uns kritische Ausgaben von Opitz und Gryphius fehlen, 
schreitet die große Luther-Ausgabe unter ihrem neuen Redaktor (K. Drescher) mit 
raschen Schritten der Vollendung entgegen. 
Für das Bittelalter hat Anton E. Schönbach (gest. 25. August 1911) durch Er- 
schließung der geistlichen Quellen mehr als alle anderen getan, während er die Forschung 
über Walther v. d. BVogelweide kaum zu fördern vermochte, die überhaupt seit den Arbeiten 
von Burdach und Wilmanns keine nennenswerten Fortschritte aufzuweisen hat. Über 
die Vorgeschichte des Nibelungenliedes und der Kudrun, über die Quellen des Parzival 
und den Bildungsumfang Wolframs hat ein reger Meinungsaustausch stattgefunden, 
ohne zu völliger Klarheit zu führen. Sicherer Gewinn ist die Festlegung der Reihenfolge 
für die Werke Hartmanns von Aue und Konrads von Würzburg. Um die Geschichte 
des Minnesanges und der Spruchdichtung haben sich die Anfänger in Ausschnittarbeiten 
fast zu viel, die reiferen Gelehrten zu wenig gekümmert. Die Neubearbeitung von „Minne- 
1199
	        
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